Die freundliche Frau mit dem Hündchen:

Christl Trumm – ihr Leben und ihr Clubleben

Eine Rollstuhlfahrerin fährt langsam auf die große Kreuzung in Schwabing zu. Neben ihr ein kleiner Pudel - ein zierliches Tier, das quicklebendig um die Rollstuhlräder herumtanzt. An der Kreuzung angekommen, springt Sissy, der hellbraune Zwergpudel, ohne Aufforderung auf den Schoß der Frau, bleibt brav sitzen, bis sie die Straße überquert hat und springt dann wieder herunter. Christl Trumm, so heißt die Rollstuhlfahrerin mit ihrem Hündchen, ist eine Erscheinung, die im ganzen Stadtviertel bekannt ist.

Geboren wurde Christl noch in Kriegszeiten. Sie war die begeistert erwartete kleine Prinzessin und blieb es, auch als man bald nach der Geburt feststellte, dass das Kind behindert war. Eine spastische Lähmung. Das Kind lernte zwar sprechen, aber bald mussten die ersten Operationen stattfinden. Mit Hilfe von Schienen lernte sie das Laufen.

Fliegerangriff auf München. Die Familie rettet sich mit vielen anderen in den Bunker. Christl, nach der Operation noch im Spreizverband, wird mitgetragen. Draußen fallen die Bomben. Christl hat Schmerzen und sie hat Angst. Die Familie überlebt den Angriff, aber ihre Wohnung liegt in Schutt und Asche. Die Trumms werden nach Aschau im Chiemgau evakuiert.

Als der Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurückkam, wurde die kleine Schwester Gabriele geboren. Ob das zweite Kind wohl auch behindert sein würde? Da waren bange Zweifel. Doch glücklicherweise war dieses Kind gesund und Christl jubelte: Sie hatte eine lebendige Puppe bekommen. Doch die kleine Gabi schrie, als Christl sie knutschen und küssen wollte. Sie rannte lieber draußen herum und spielte mit den anderen Kindern. Da konnte Christl nicht mithalten. Und Gabi nutzte das aus: „Fang mich doch, fang mich doch“, schrie sie und sauste davon. Was für eine Zurücksetzung war die Behinderung von Anfang an! Die liebevollen Eltern konnten das ein wenig ausgleichen. „Nur wenn ich Maikäfer gefangen hatte und wir mit Bauklötzchen im Wohnzimmer für die Maikäfer Straßen gebaut haben, dann sind wir alle auf dem Boden herumgekrabbelt, Christl, ich und die Maikäfer“, erzählt Gabi später.

Beide Schwestern erinnern sich trotz aller Nachkriegs-Einschränkungen an eine glückliche Kindheit: Zärtliche Eltern, die sich mit Eifer um die Kinder gekümmert haben. Vor allem Christl, das Sorgenkind, stand im Mittelpunkt. Und das allzu sehr, wie Schwester Gabi manchmal eifersüchtig feststellte. Aber es gab auch viel Gemeinsamkeit: Man musizierte zusammen. Der Vater spielte die Zither. Man sang Volkslieder des Chiemgaus und andere - Christl war mit Inbrunst dabei, obwohl sie nicht singen konnte. Egal, denn da war pure Begeisterung! Und Christls Liebe zur Musik war geweckt.
Dann wurde Christl sechs und nun sollte sie eigentlich in die Schule. Damals redete noch keiner von Integration und Inklusion. Dafür gab es immer wieder selbstständige Lehrerpersönlichkeiten, die eigenverantwortlich entschieden, behinderte Kinder in ihre Klassen aufzunehmen und die Mitschüler anleiteten, dort zu helfen, wo es angebracht war. Dazu benötigten sie keinen Stab speziell ausgebildeter Inklusionsfachleute, die um das behinderte Kind herumtanzten, sondern nur die natürliche, aufmerksame Menschlichkeit, die doch jeder von uns mitbringen könnte, denke ich mir. Wobei man natürlich auch zugestehen muss, dass speziell ausgebildete Fachkräfte in manchen Fällen nötig und sinnvoll sind.

Christl sollte also nun in die Schule. Das Aufnahmegespräch mit der Klassenlehrerin verlief problemlos und überzeugend: „Na Christl, warum möchtest Du denn in die Schule gehen? - „Weil ich ganz viel lernen will und dann kann ich mir ein Auto kaufen und in der Welt herumreisen“.

Die Energie dieser Antwort überzeugte die Lehrerin. Christl war aufgenommen.

Das Schülerleben gestaltete sich dann natürlich nicht so einfach wie der vielversprechende Anfang. Die erste Schule war im Chiemgau. Zurück in München kam Christl in eine Schule ohne Aufzug. Fahrdienst gab es damals keinen. Der Schulweg war zu weit, um ihn mit Krücken zu bewältigen. Die Mutter brachte Christl also jeden Tag mit einem geliehenen Kinderwagen – einem sogenannten Sport-Cabrio-Modell - in die Schule, im Winter auch mit dem Schlitten. An der Riesentreppe angekommen zog das Kind sich mühsam am Geländer hoch und stellte das erste Bein auf die Stufe. Als sie dann gerade stand, musste die Mutter das zweite Bein hochheben und dazustellen. Und so jede Stufe, bis die beiden endlich oben angekommen waren. Ein enormer Kraftakt. Danach auf dieselbe Weise wieder zurück ins Erdgeschoss. Zuhause war es dann noch einmal ein Stockwerk bis zur Wohnung – eine quälende Prozedur und das jeden Tag.

Der Umstieg in den Rollstuhl war ebenso erleichternd wie gewöhnungsbedürftig. Denn sie bekam zunächst einen sogenannten Selbstfahrer, ein Ungetüm, der nur für draußen geeignet war und für den man ständig einen geeigneten Stellplatz finden musste. Aber Christl konnte sich nun immerhin ohne Krücken vorwärts bewegen!

Es folgten drei Jahre in der Handelsschule der „Landesanstalt für krüppelhafte Kinder“ - so hieß das damals. Später wurden die „krüppelhaften Kinder“ in „körperbehinderte Jugendliche“ umbenannt! Sprache entlarvt eben oft unsere Wahrnehmung und unser Denken. Christl hat erfolgreich mit der mittleren Reife abgeschlossen.

Im selben Jahr zog die Familie nach Traunstein, also wieder in den Chiemgau. Das Rollstuhl-Ungetüm wurde durch einen normalen kleinen Schieberollstuhl ersetzt.

Jetzt musste ein Arbeitsplatz gefunden werden, was wiederum sehr schwierig war. Denn wer holt sich schon eine junge behinderte Frau ins Haus, die sich nur sehr schwerfällig mit Krücken vorwärtsbewegen kann, deren Hände ebenfalls bewegungsbehindert sind und die gelegentlich auch Monate ausfällt, weil wieder eine Operation gemacht werden muss. Und woher weiß man denn, ob bei so einer Behinderung nicht auch der Kopf betroffen ist und das Gehirn vielleicht doch nicht normal arbeitet. Ein Vorurteil, das sich bis heute gehalten hat.

Aber Christl setzte sich erfolgreich durch. Sie fand immer wieder eine Stelle, oft in Krankenhäusern oder sozialen Einrichtungen. Trotzdem – das Leben war manchmal schwierig und grausam. Was Christl immer wieder in Verzweiflung stürzte und an den Rand ihrer Existenz brachte. Glücklicherweise waren da die unermüdlichen Eltern und die liebevolle Schwester – eine Familie als sicherer Halt und Ruhepol.

Als Christl vor 40 Jahren eine Anstellung bei der Stiftung Pfennigparade fand und in eine der barrierefreien Wohnungen einziehen konnte, die die Pfennigparade an der Barlachstraße in München gebaut hatte, erleichterte das ihr Leben um einiges.

Damals lernte ich Christl kennen. Der CBF war gerade gegründet. Da wurde Christl bereits Mitglied. Eine freundliche dunkelblonde Frau mit lachenden Augen und krausen Locken, die an allem interessiert war und überall mitgemacht hat. Im Chiemgau bereits hatte sie ja Erfahrungen gesammelt, hatte Treffen für Behinderte veranstaltet und Gruppen gegründet.

Der eigentliche große Triumph und einer der Höhepunkte in Christls Leben war die bestandene Fahrprüfung und ein eigenes Auto. Da war sie 25 Jahre alt. Jetzt erfüllte sich ihr Kindertraum und sie fuhr los – nach Österreich, Italien, nach Jugoslawien und in den Schwarzwald. Sie reiste und reiste. Mit den Eltern, mit Freunden, aber auch alleine. Wer sich bisher ein ganzes junges Leben nur schwerfällig vorwärts bewegt hatte, muss im eigenen Auto, es selber steuernd, ein besonderes Freiheitsgefühl empfinden!

Als die körperlichen Beschwerden immer anstrengender wurden – Christl hatte inzwischen zahllose Operationen hinter sich – musste sie ihren Beruf aufgeben und auch das Autofahren. Der Elektrorollstuhl war kein wirklicher Ersatz, aber doch ein kleiner Trost.

Um ihrer behinderten Tochter das Älterwerden ein wenig zu erleichtern, suchten die Eltern mit Christl zusammen eine winterliche Bleibe in südlichen Ländern. Denn schwierig und extrem bewegungsbehindernd war ja vor allem die Kälte. Nach vielen Jahren war sie dann endlich gefunden, die winzige barrierefreie Wohnung in einer Anlage auf Teneriffa. So floh Christl jeden Winteranfang in die Ferne und entkam so den körperlichen Schmerzen, dem Frost, dem Schnee und der hiesigen Grippewelle. Etliche Rollstuhlfahrer und auch nichtbehinderte Nachbarn, von denen manche glauben, dass Körperbehinderte sowieso zu viele Vergünstigungen hätten, beneideten sie, denn sie selber hatten nicht die Gelegenheit, ebenfalls den hiesigen Winterbeschwerlichkeiten zu entgehen. Doch das Leben auf Teneriffa war in Christls Fall ja kein Urlaub. Auch hier musste sie alles ständig selber organisieren – den Alltag, die Einkäufe, die Putzfrau, die Krankengymnastik, die Arztbesuche usw.

Der Tod der Eltern bedeutete für Christl einen Einbruch, den sie nur mühsam verkraftet hat.

Da kam Sissy in ihr Leben. Sie war nicht der erste Hund, den Christl sich ausgesucht hat, aber als sie da war, war sie der Star. Ein zierlicher Zwergpudel, anmutig, springlebendig, immer gut gelaunt, vollführte der kleine Kerl zirkusreife Kunststücke. Und wie gesagt, Christl im Rollstuhl in Begleitung von Sissy war eine im Stadtviertel bekannte Erscheinung: Eine freundlich grüßende, mit den Spaziergängern plaudernde Rollstuhlfahrerin mit einem entzückenden Hündchen!

Von einem schweren Sturz in München erholte Christl sich dann nicht mehr: „Das hat mir das Genick gebrochen“, sagte sie. Auch um Sissy, ihren zauberhaften kleinen Liebling, konnte sie sich seitdem nicht mehr kümmern und musste den Hund in die Obhut ihrer Schwester geben. Diese kümmerte sich zunehmend mehr auch um Christl, die wegen einer fortschreitenden Augenkrankheit nicht mehr lesen und schreiben konnte.

Als man einige Zeit später im Krankenhaus Großhadern bei einer Routineuntersuchung überraschenderweise eine Krebserkrankung feststellte, ging Christls Leben rasch zu Ende.

Nachdem sich herausstellte, dass keine Heilung mehr möglich war, kam sie auf die Palliativ-Station. Sie starb im vergangenen Jahr.

Die Angehörigen konnten in aller Ruhe von ihr Abschied nehmen: Ein ruhiges, helles Zimmer. Auf der Bettdecke waren Rosenblätter verstreut. Christl lag friedlich da. Man hatte ihr eine aufgeblühte Rose in die Hand gegeben. Es brannte eine Kerze. Die Balkontür war geöffnet, damit die Seele hinaus, in die Freiheit konnte.

Porträt von Ingrid Leitner, nach einem Gespräch mit Christls Schwester Gabriele Wagner