Eine Einladung zum Lesen von Ingrid Leitner

Der kleine Band mit Gedankensplittern und Betrachtungen überzeugt durch seine Genauigkeit und Ehrlichkeit. Und – für uns besonders interessant: Die Autorin beschreibt nicht nur ihr eigenes Älterwerden, sondern auch ihre Erfahrungen mit einer Behinderung – sie hat seit vielen Jahren MS: Ich hatte in der Gesundheit und der Normalität keine Heimat.
Dadurch hat sie schon in jungen Jahren die Probleme zu bewältigen gehabt, die ein gesunder, nicht behinderter Mensch erst im Alter kennenlernt:
... Wenn man über Jahrzehnte an einer unheilbaren Krankheit leidet, ist dieser Zustand irgendwann wie das Leben und das Altern selbst: Die besondere Befristung geht in der allgemeinen auf. ...Einst, als junge Frau befand ich meine Beine und mich selbst als ein wenig zu kurz....
Aus diesem Grunde trug ich gerne Pumps oder Sandaletten mit beachtlicher Absatzhöhe. Irgendwann konnte ich nicht mehr auf „solchen Schuhen“ gehen. Aber auch meine gleichaltrigen gesunden Freundinnen stiegen von den Kothurnen. Da muss man sich überlegen, wohin man den Verlust sortiert.

Was aber ist nun das Alter, woran zeigt es sich? Wie nehmen wir es wahr? Nicht nur durch beginnende Wehwehchen oder ernsthafte Alterskrankheiten, oder durch den wachsenden Erinnerungsschatz, den man mit den Jüngeren nicht mehr automatisch teilt, sondern auch durch konkrete Veränderungen der Umwelt, die sich langsam eingeschlichen haben und die man plötzlich erkennt:
Als Studentin war ich von mittlerer Größe. Einsfünfundsechzig, stand in meinem Pass. Befand ich mich in einer Gruppe gleichaltriger Mädchen, so ragte ich nicht heraus..., aber ich verschwand auch nicht in ihr. Dreißig Jahre später war ich im Vergleich mit den Studentinnen in meinen Seminaren klein. Die nachfolgenden Frauengenerationen hatte es gewissermaßen hinter meinem Rücken stetig in die Höhe getrieben. Diese Menschenverlängerung ist in nur wenigen Jahrzehnten gewaltig vorangekommen. Einsfünfundsechzig steht immer noch in meinem Pass. Jetzt hat mich das Alter sogar schrumpfen lassen.

Und auch an der Sprache merkt der älter werdende Mensch, dass er aus einer anderen Zeit kommt. Wann wurde der Begriff Mannequin durch „Model“ ersetzt, wann „Schlager“ durch „Song“, wann „Rendevouz“ durch „Date“?
Wenn ich die zeitgemäßen Mannequins... betrachte, kommen sie mir vor wie von einem anderen Planeten, eine andere Sorte als ich und meinesgleichen...Finde ich sie schöner als die einstigen? Nein. Finde ich sie hässlicher als die einstigen? Nein. Nur anders.

Und vieles erscheint dem älter werdenden Menschen ja nicht nur anders, sondern auch fremd und mitunter befremdlich:
Zeitgeiz...Den Zeitgeiz nahm ich oft an amerikanischen Akademikerinnen wahr. Die Attitüde, dass sie keine Zeit zu verlieren hätten, dass man ihnen ihre Zeit nicht stehlen solle, dass jede Minute ihrer Existenz Wichtigem vorbehalten sei. Ihre angestrengte Sprungbereitschaft hat mich...stets meinerseits angestrengt und in eine tiefe alteuropäische Müdigkeit gesenkt. (Hierin bin ich nicht mehr zeitgemäß)
Gibt es dann überhaupt so etwas wie „Richtig altern, mit Gewinn, mit Erfolg altern?“
Ich überlege, ob die Abwägung zwischen dem Altersgemäßen und dem Zeitgemäßen nicht die wahre Artistik des Alterns ist.
Dies dürfte wie jeder künstlerische Kraftakt nicht ganz leicht sein – „Das Altern ist nichts für Feige“, sagt ein amerikanisches Sprichwort. Und was die bundesdeutsche Entwicklung angeht und den Wunsch nach einem würdevollen Alter, so ist die Autorin recht pessimistisch. Nach einem der vielen erschreckenden Fernseh- Berichte über die Zustände in manchen Altersheimen schreibt sie:
Ich überlege: Ob es für mich als Alte und Behinderte, wenn ich nicht mehr über mich bestimmen könnte und keinen lieben Menschen hätte, der es in meinem Sinn für mich täte, in hilflosem Zustand, nicht doch besser wäre, umgebracht zu werden, als bei lebendigem Leibe zu verfaulen. Schnell und schmerzfrei sollte es aber sein. Bei so viel Trostlosigkeit trösten dann nur verlässliche Beziehungen oder ein freundliches Kompliment.
Es ist beruhigend zu lesen, dass auch eine unbestechliche Frau wie die Autorin ihre - ihr allerdings sehr bewussten – Schwächen hat:
Damals, (als ich jung war) witterte ich in jedem Kompliment, das mein Äußeres betraf, eine Abwertung meines intellektuellen Vermögens. Ich zog keinen Honig aus dergleichen. Heute hingegen gebe ich mich noch der unaufrichtigsten, auf mein Erscheinungsbild gerichteten Schmeichelei unkritisch hin.

Auch mit der Altersweisheit, so die Autorin, steht es im allgemeinen weniger gut als so mancher meint:
Eines Tages waren die Leute, die das Land regieren, nicht mehr alle älter als ich, sondern mehrheitlich in meinem Alter. Das hat mich erschreckt und ich war erstaunt über mein Erschrecken, und ich versuchte, ihm auf den Grund zu gehen, und ich ertappte mich bei einer uneingestandenen idiotischen Annahme. Nicht, dass ich von den älteren Politikern zuvor sehr viel gehalten hätte, ganz im Gegenteil, aber ich muss doch insgeheim gedacht, gehofft, angenommen haben, dass den Älteren, allen Älteren, und somit auch den älteren Politikern, im Zuge des Alterns ein verstecktes unsichtbares Weisheitspotential zuwüchse. Jetzt selber älter, wusste ich aus eigener Erfahrung, dass dem nicht so ist...

Was aber bleibt, wenn das Altern manchmal so beschwerlich, traurig und Angst einflößend ist? Wenn man genau hinschaut – ja doch eine ganze Reihe glücklich machender Dinge:
...die Liebe,
die Freunde und die Hunde
die Sonne
gute Lektüre
gutes Essen
gute Kunst
gute Musik, angenehme Gesellschaft...,
der Blick von der Steilküste Sorrents auf den Golf von Neapel...