Nein, auch der Elfenbeinturm schützt nicht vor dem Leben.

Von Zeit zu Zeit graben Verlage Bücher aus ihrer Backlist aus, die mal einigen Erfolg hatten, um sie erneut unter die Leute zu bringen. Oft geschieht dies mit erhebli-chem publizistischem Aufwand. Um so einen Fall handelt es sich bei dem Roman "Stoner" von John Williams. Nachdem das Rezept funktioniert hat und das Buch sich gut verkaufte, wird momentan versucht, mit "Butcher's Crossing" einen weiteren Roman des Autors unter die Leute zu bringen.

 

Die erste Auflage wurde in den fünfziger Jahren wohlwollend aufgenommen, der Verfasser geriet aber dann mehr oder minder in Vergessenheit. Warum das Buch ankam, kann man gut verstehen. Es handelt sich um eine gradlinig, traditionell erzählte bewegende Geschichte, die von persönlichen Erfolgen, Misserfolgen, Kata-strophen, von der Entfremdung zwischen Menschen, Missverständnissen, Glück und Unglück, Kälte und Liebe handelt - von der Liebe zu Menschen, die nicht im-mer gelingt, und von der Liebe zur Literatur und ihrer Fähigkeit, das Leben zu verwandeln.

Der Protagonist, William Stoner, ein begabter Bauernsohn, wird von seinen Eltern aufs College geschickt, um Landwirtschaft zu studieren. Er bringt das Studium anständig voran, aber es reizt ihn nicht sehr. In einem Kurs über englische Literatur öffnet ihm ein Dozent die Augen für die Literatur, ein Shakespearesonett führt gewissermaßen zum Erweckungserlebnis. Stoner lässt das Landwirtschaftsstudium bleiben und studiert Literaturwissenschaften; die Eltern nehmen's hin. Er meldet sich nicht als Freiwilliger im 1. Weltkrieg, bleibt an diesem College, wird dort Dozent und Professor, heiratet die erste Frau, in die er sich verliebt, bekommt mit ihr ein Kind, die Ehe wird zur Katastrophe - aber damals ließ man sich nicht so einfach scheiden. Sein Glück findet der Held in den Büchern und der Wissenschaft und in einer späten Liebesgeschichte, eine Affäre, der aufgrund universitärer Intrigen nur kurze Dauer bestimmt ist. Stoner erreicht das Pensionsalter und stirbt bald nach ei-ner Abschiedsveranstaltung, die noch für ihn inszeniert wurde. Der Alltag am College, die Lehre, Auseinandersetzungen und Anfeindungen, alles im engen, beschränkten, sich selbst genügenden Zirkel der Forschung und Lehre.

Noch ziemlich am Anfang des Buches charakterisiert einer von drei Freunden - er wird im Krieg fallen - die Universität mit den Worten: "Unseretwegen gibt es die Universität, für die Enteigneten der Welt, nicht für die Studenten und nicht für das selbstlose Streben nach Wissen, auch nicht aus einem der anderen Gründe, die man euch nennen mag. Wir teilen die Gründe aus und lassen einige Gewöhnliche ein, jene, die in der Welt bestehen könnten, doch geschieht das bloß zur Tarnung. Wie die Kirche im Mittelalter, die sich keinen Deut um Laien oder gar um Gott scher-te, haben wir unsere Vorwände, die es uns zu überleben gestatten. Und wir werden überleben - denn das müssen wir. (...) schlecht, wie wir sind, sind wir doch besser als jene draußen im Schmutz, die armen Dreckskerle der Welt. Wir fügen keinen Schaden zu, wir sagen, was wir wollen, und werden noch dafür bezahlt; das ist ein Triumph der natürlichen Tugend oder kommt ihm doch zumindest verdammt nahe." (S. 43 f)

John Williams war selbst Bauernsohn und Universitätsdozent und hat wie jeder Au-tor in das Leben seines Helden zweifellos Elemente seiner eigenen Existenz ein-gewoben. Die Universität als der geschützte Raum für diejenigen, die nicht fähig sind, im Sturm der freien Wirtschaft zu bestehen - zumindest in den fünfziger Jah-ren des vorigen Jahrhunderts schien das der Fall zu sein.

Ist Stoner gescheitert? Seine wissenschaftlichen Ambitionen konnte er nicht voll erfüllen, sein Talent nur eingeschränkt nutzen. Seine Liebe wurde zunichte ge-macht, seine Familie zerstört - hätte er seiner hochneurotischen Frau mehr Wider-stand entgegengesetzt, vielleicht wäre ein anderer Verlauf möglich gewesen, aber "hätte, hätte Fahrradkette". Gerade in der Beschreibung eines Lebens, in dem alles so kommt, wie es halt kommen musste, liegt die große Stärke und Ehrlichkeit des Romans. Und die Momente erfüllter Liebe zu einer jungen Frau sowie die Gelegen-heit, die Liebe zur Literatur und zur Wissenschaft weiterzugeben, zeigen tatsächlich ein erfülltes Leben. Keine Erfolgsgeschichte, keine Misserfolgsgeschichte auf gan-zer Linie - es ist, wie es ist.

Und das ist sehr berührend geschildert.

Auf einen Aspekt will ich noch hinweisen, der ein Licht darauf wirft, wie an ameri-kanischen Colleges seinerzeit mit Behinderung umgegangen wurde. Stoner be-kommt einen Kollegen, der später sein Fachbereichsleiter und also Vorgesetzter wird, Hollis Lomax, ein sehr intelligenter und hochqualifizierter Mann. Er ist körperbehindert: "Er maß kaum eins fünfzig und war auf groteske Weise missgestaltet, ein kleiner Buckel zog die linke Schulter bis zum Hals hoch; der linke Arm hing schief herab. Der Oberkörper war massig und eigenartig schief, weshalb er stets ums Gleichgewicht zu kämpfen schien; die Beine waren dünn, das steife rechte Bein zog er nach." (Sein Gesicht war...) "das Gesicht eines Leinwandhelden, lang, hager, lebhaft und stark ausgeprägt, die Stirn hoch und schmal mit vortretenden Adern, dazu dichtes, wallendes Haar von der Farbe reifen Weizens, in einer leicht theatra-lischen Tolle nach hinten gekämmt." (S. 118)

Eines Tages kommt ein ebenfalls körperbehinderter Student, den Lomax geschickt hat, in Stoners Seminar. Dieser Student ist zwar intelligent, aber faul und ein intel-lektueller Hochstapler. Im Seminar benimmt er sich provozierend. Als Stoner sich bei Lomax nach ihm erkundigt, antwortet dieser: "'Wie wir alle hat er so seine Probleme, nur will ich nicht hoffen, dass seine wissenschaftlichen und kritischen Fähigkeiten im Lichte seiner doch recht verständlichen psychischen Störungen beurteilt wer-den.' Er sah Stoner direkt an und fügte noch mit boshaftem Vergnügen hinzu: 'Er ist ein Krüppel, wie Ihnen kaum entgangen sein dürfte.'“ (S. 173)

Dieser Student liefert eine ungenügende Arbeit im Seminar ab. In der Abschlussprüfung, die ihm ein Doktorandenstipendium ermöglichen würde, bringt er nicht die nötige Leistung. Stoner plädiert für Durchfallenlassen, womit er sich Lomax' entschiedene Feindschaft zuzieht. Irgendwie wird es gedeichselt, dass der Student doch sein Stipendium bekommt; er wird dann für die Geschichte nicht weiter ge-braucht, es genügte, ihn als Katalysator für das Verhältnis zwischen Stoner und Lomax einzuführen. Lomax jedenfalls macht Stoner von nun an das Leben auf jede mögliche Weise schwer, er sorgt auch dafür, dass Stoners Geliebte die Universität verlassen muss.

Was mir an der Episode bemerkenswert scheint: Die Sprache war noch nicht im heutigen Maße politisch korrekt. Unverblümt benutzt Lomax das Wort „Krüppel“. Aber Diskriminierung von Behinderten wurde an amerikanischen Colleges seiner-zeit nicht geduldet. Stoners Pech ist, dass die Blenderei des Studenten durch den Bezug auf seine Behinderung nicht adäquat behandelt werden kann. In dieser Episode drückt die Welt draußen in das geschützte Gebiet des universitären Elfenbeinturms hinein. Stoner, dem es um wissenschaftliche und intellektuelle Redlichkeit geht, verficht zwar seine Position, kann aber "nichts machen".

Jürgen Walla