Wolfgang Herrndorfs Bericht „Arbeit und Struktur“
„Themenwoche Sterben auf der ARD. Komplett Enthirnte wie Margot Käßmann versuchen, ein freies Leben gelebt habenden Menschen das Recht auf Freiheit im Tod zu bestreiten. Die Position der Vernunft wie immer dünn besetzt. Ein Mann, der seine alzheimerkranke Frau beim Suizid unterstützte, sitzt neben einer Zumutung namens Kapuzinermönch Bruder Paulus, dem sein ihm das Gesicht verwüstet habender zweistelliger IQ befiehlt, eine Stunde lang mit zusammengekniffenen Augen angestrengtes Nachdenken simulierend in die Runde zu schauen und seinen Vorredner anzublaffen, warum er seiner Frau denn nicht gleich die Pulsadern aufgeschnitten habe. Lang lebe Berlin-Mitte.

 

Nicht geladen wie immer einer, der das Naheliegende erklärt, nämlich dass in einem zivilisierten Staat wie Deutschland einem sterbewilligen Volljährigen in jeder Apotheke ein Medikamentenpäckchen aus 2 Gramm Thiopental und 20 mg Pancuronium ohne ärztliche Untersuchung, ohne bürokratische Hürden und vor allem ohne Psychologengespräch – als sei ein Erwachsender, der sterben will, ein quasi Verrückter, dessen Geist und Wille der Begutachtung bedürfe – jederzeit zur Verfügung stehen muss.“
Diese herben Worte schrieb am 19. November 2012 um 22:17 der an einem unheilbaren Gehirntumor erkrankte Wolfgang Herrndorf in seinem Blog „Arbeit und Struktur“, sie sind in dem gleichnamigen Buch, das aus dem Blog entstand auf Seite 369 abgedruckt.
Der 1965 geborene Herrndorf, der Malerei studiert hatte, dann Schriftsteller und vor allem durch seine beiden letzten Romane „Tschick“ und „Sand“ bekannt wurde, hat sich im Sommer 2013 das Leben genommen, er schoss sich mit einem Revolver durch den Mund in den Kopf. Dieser Revolver, den er sich besorgt hatte, gab ihm die Gewissheit, dass er mit vollem Willen und bei klarem Bewusstsein ein Ende machen könne. Das wollte er, so lange es ihm noch möglich war, es selbst zu tun. Nachdem er im Jahr 2010 die Diagnose Glioblastom bekam, dessen tödliche Konsequenzen ihm klar waren,(offen war lediglich, wie lange er noch zu leben haben würde), unterzog er sich Operationen, Bestrahlungen, der ganzen schulmedizinischen Prozedur. Vor Verzweiflung schützte ihn, was er von einem anderen Glioblastompatienten, der schon 13 Jahre mit der Krankheit lebte, in einem Telefongespräch gelernt hatte: Nicht zu verzweifeln, nicht aufzugeben, alle Möglichkeiten auszuprobieren, und vor allem Arbeit und Struktur beizubehalten. „Wenn ich arbeite“, sagte Herrndorf, „geht es mir am besten.“
Also setzte er sich an den Computer, schrieb fortlaufend den Blog über seine Befindlichkeit, stellte zwei schon lang als Projekt existierender Romane fertig („Tschick“, eine optimistische lakonische Jungengeschichte, „Sand“, einen düsteren verwirrenden, ausweglosen, aber auch komischen Agententhriller), litt unter seiner Krankheit, kämpfte, trieb Sport, war verzweifelt, hatte Hoffnung, arbeitete, begann weitere Projekte, bekam neue Medikamente von der Kasse abgelehnt, die er sich immerhin dank des Erfolgs seiner Bücher kaufen konnte, kaufte eine neue Wohnung, lebte im Bewusstsein des Todes und war sich die ganze Zeit darüber im Klaren, dass und wie er Schluss machen wollte, und wann: nämlich bevor er nicht mehr selber dazu in der Lage sein würde.
Sein Buch, das er den behandelnden Ärzten gewidmet hat, ist keine leichte Lektüre. Es finden sich darin Angriffe auf Menschen, die es gut mit dem Autor meinten, Polemik gegen Esoteriker, Wunderheiler, das einleitende Zitat gibt einen Eindruck. Der Autor beschreibt das Fortschreiten der Krankheit, zunehmende Verluste des Sichtfelds, des Gedächtnisses, epileptische Anfälle, Orientierungslosigkeit, Soziophobie. Hilflosigkeit. Panikattacken, Aufenthalte in der Psychiatrie, Krankenhausroutine, Warten. Herrndorf hatte Freunde, die ihn unterstützten. Beim Leben und auch bei seinem Blog, den zu verfassen sie ihn überzeugt hatten. Obwohl Verzweiflung darin vorkommt, ist es kein verzweifeltes, kein schreckliches Buch. Aber alles andere als einer der beliebten Ratgeber im Stil von „Wie ich den Krebs besiegte und die Tour de France gewann.“
Ein Plädoyer dafür, Menschen, die sterben wollen, das Sterben zu ermöglichen, ein Appell an die Menschlichkeit und eine Verteidigung der Menschenwürde. Man erfährt bei der Lektüre sehr viel über unheilbare Krankheiten und den Umgang von Menschen damit, und man kommt ins Nachdenken. Über den Tod, über das Leben.
Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur, 445 Seiten, Rowohlt Berlin, € 19.95.


Jürgen Walla