Klaus FeslVom Gewinnen und Verlieren

Jürgen Fesl erzählt aus seinem Leben – ausführlich und ohne zu stocken. Es ist einfach, mit ihm über seine Vergangenheit zu reden, nicht nur, weil er gerade seine Autobiographie schreibt, sondern weil er so offen über alles spricht, was ihn bewegt, ihn erfreut, ihn behindert. Warum er seine Autobiographie schreibt? Weil er seine Vergangenheit aufarbeiten, sein Leben in den Griff kriegen will. Behindert wird er dabei immer wieder durch gelegentliche Krampfanfälle, die er bewältigen muss, und erfreut, ja, erfreut ist er leider selten. Denn er ist sehr streng mit sich selbst. Gönnt sich wenig Freuden. Er kann genießen, aber er erlaubt es sich nicht oft. Dabei hat er viel Sinn für Schönheit und sinnliche Freuden: Als er so vor mir sitzt, trägt er eine schicke Brille und einen tief burgunderroten Pullover. Um den Hals einen grauen Schal mit mattem Silberton. Ein distinguierter Herr also, mit großen freundlichen Augen, heller Gesichtshaut und kurz geschnittenem Grauhaar. Ein äußerst zurückhaltender Mann. Ja natürlich, er könne schon genießen, Musik zum Beispiel! Bei ihm zu Hause stapeln sich Türme von Platten und CDs. Afrikanische und südamerikanische Rhythmen vor allem.

 

Wenn er diese Musik hört, werden Gefühle gelöst, die lange im hintersten Winkel seiner Seele brachlagen. Die ihn begeistern und erschüttern können. Diese Empfindungen aber können einen seiner Krampfanfälle auslösen. Und sofort beginnen wiederum die Probleme.

Doch von Anfang an. Geboren ist Klaus-Jürgen Fesl in Niederbayern. Die Familie ist bald nach München gezogen, und von da an ist Klaus- Jürgen Münchner geblieben. Als Kind wird er Klaus gerufen. Ein späteres einschneidendes Erlebnis lässt ihn zu Jürgen werden. Aus den wenigen Erinnerungen an seine frühe Kindheit ragen einige heraus: Das gerade vierjährige Büblein liegt in Mutters Bett. Wirft sich lustvoll auf ihren Bauch. Quietscht vor unbändiger Wonne. Fühlt sich angenommen und selig. Diese wärmende Mutter aber stirbt gleich danach an der Geburt seiner jüngeren Schwester. Der Vierjährige steht an einer tiefen Grube. Versteht nichts. Warum ist die Mutter nicht mehr da? Wo ist sie? Er versinkt im stummen Schmerz. Bald darauf heiratet der Vater wieder. Die junge Stiefmutter, die sich um die drei Kinder kümmern muss und gleich auch noch ein eigenes bekommt, fühlt sich überfordert. Der Vater, beruflich viel auf Reisen, ist streng und hart. Wärme und Zärtlichkeit?

Die Großmutter in Niederbayern, wo der Vater ihn gelegentlich abgibt, lässt ihn Zuneigung und Liebe spüren. Sie ist ganz vernarrt in den zarten Knaben. „Mein Klausi“, sagt sie und kocht wunderbare Gerichte für ihren Liebling, dieses anschmiegsame, blonde Kind. Und Klaus erinnert sich gerne: Es ist Sommer. Das Gras im Vorgarten steht hoch. Am Haus fließt der Bach vorüber. Ein Rinnsal. Da sitzt Klausi und spielt hingebungsvoll mit dem Sand, den Steinchen, die sich in den Wasserwirbeln drehen, und versucht eines der kleinen Fischlein zu erwischen. Ohne Erfolg, aber unermüdlich. Da klingelt die Großmutter zum Essen und ruft: „Jawohl, mein Herz, heut gibt’s Kartoffelsterz!“ Klausi läuft los. Es ist das Paradies. Irgendwann holt der Vater ihn wieder ab. Für Klausi wird die Fahrt nach München bereits zur Qual. Denn daheim wird er wieder nicht beachtet werden, aber viel geschimpft. Er weiß nicht, wie er sich verhalten soll. Alles, was er macht, ist falsch. Verhält er sich so, dann ist es nicht richtig. Verhält er sich anders, passt es auch nicht. Außerdem ist er, wie die anderen Kinder der Familie auch, ein Störenfried für das Ehepaar. Sie wollen in Ruhe ihre Sportschau im Fernsehen sehen. Gefühle, so lernt er, sind etwas Verwirrendes. Warum das so ist, will er aber unbedingt verstehen. Das gelingt ihm nicht. Also weg mit den Gefühlen. Doch da Klaus-Jürgen ein aufgewecktes Kind ist, sucht er. Er will die Realität erfassen. Will die Welt erobern. Sein Leben ergreifen. Da kommt ihm die Stadtbibliothek sehr entgegen. Nun liest er, was er kriegen kann. Über Gott und die Welt und das Universum. Alles will er wissen und verstehen. Der kindliche Bücherwurm kommt in die Pubertät. Mit sechzehn oder siebzehn reist er mit einer Jugendgruppe das erste Mal nach Italien. Die mediterranen Länder werden ihn sein Leben lang anziehen. Da ist Wärme. Da sind Farben und Sinnesfreuden. Aber er nimmt nicht immer teil. Ist eher der Beobachter. Ein genießender? Jedenfalls lernt er auf dieser Reise ein Mädchen kennen. Es ist schön. Es ist anziehend. Doch am Ende der Ferien ist alles vorbei. Klaus versucht sich das Leben zu nehmen. Dann kommt die Zeit des Aufbegehrens. Er trägt lange Haare wie so viele und hört die Musik der neuen Jugend. Der Vater, der trotz schlimmer Erlebnisse in den Hitler’schen Kriegen immer noch von militärischer Ordnung und Disziplin träumt, nennt den Sohn einen „Hippie“ und „Gammler“. Und an eine Charakterverbesserung durch Haare-Abschneiden, Arbeitslager und Wehrmacht (obwohl Deutschlands neugegründete Verteidigungsarmee „Bundeswehr“ heißt) glaubt er auch. Seit dieser Zeit können die beiden nichts mehr miteinander anfangen. Auf einer seiner Spanienreisen kommt Klaus mit Haschisch in Berührung. Aber der Rausch ist nicht das, was er sucht. Für ihn ist das kein Ausweg, kein Genuss, keine Bewusstseinserweiterung. Dazu ist er viel zu wenig bereit loszulassen. Er will die Kontrolle behalten, über die Umwelt, über sich.

Klaus, der zahme junge Wilde, macht seine Begeisterung zum Beruf. Er wird Musikverlagskaufmann. Arbeitet bei der bekanntesten Münchner Firma, dem Hieber am Dom. Um den Seniorchef versammelt sich eine junge Truppe langhaariger Musikexperten. Verrückte, talentierte junge Leute. Herr Hieber kommt gut mit ihnen aus. Er ist ein großzügiger Patriarch, der das Potenzial der jungen Menschen erkennen, fördern und nutzen kann. Hier lernt Klaus seine Frau kennen. Eine hübsche Rothaarige. Sie kennt das Metier, denn ihr Vater besitzt ein Musik-Haus in Regensburg. Als sie 23 ist und er 25, heiraten sie. Eine Tochter wird geboren. In Germering finden sie eine größere Wohnung. Da reicht die Frau unvermutet die Scheidung ein. Ein Schock. Sie zieht nach Regensburg und arbeitet von nun an im Geschäft des Vaters. Das Töchterchen nimmt sie mit. Klaus sitzt alleine in der großen Germeringer Wohnung. Er versteht die Welt nicht mehr. Wo soll er hin? Zu wem gehört er jetzt? Ein Freund, sein bester und vielleicht der einzige wirkliche Freund, mit dem er bis heute verbunden ist, will ihn aus der Misere holen. „Flieg mit nach Korfu“, sagt er, „das wird Dir guttun.“ Sie landen auf der Insel. Da sind sie wieder, die satten Farben der südlichen Landschaft. Saftige Pfirsiche, reife Trauben, goldfarbene und blaue Oleanderbüsche, schwer von Blüten. Flirrende Luft. Betörender Duft im Pinienhain am Meer. „Du bist einfach ungewöhnlich sensibel“, sagt der Freund. Aber wie macht man das, sich eine dickere Haut zulegen? Wie soll Klaus das anstellen? Der Freund gibt sich Mühe, will ihn von trüben Gedanken abbringen, hält verschiedenste Ablenkungen bereit.

Da gibt es einen alten Finnen, der wahrsagen kann. Warum nicht. Klaus war noch nie bei einem Wahrsager. Mal schauen. Der Freund kommt mit. Der alte Mann betrachtet die Linien auf der hellen Handfläche. Ein wenig gespannt ist Klaus schon. „Du wirst krank werden. Schwer krank. Im Kopf. Doch das wird wieder vergehen. Dein Leben wird lang sein, und Du wirst viele Häuser im Ausland besitzen!“ Soll Klaus diese Wahrsagung ernst nehmen? Wieso krank? Was für eine Krankheit? Na ja, unterhaltsam war es jedenfalls, dieses erste Mal beim Wahrsager! Zurückgekehrt nach München will Klaus-Jürgen Fesl ein neues Leben beginnen. Er wechselt zum Medienkonzern Bertelsmann und nennt sich jetzt nach seinem zweiten Vornamen „Jürgen“. Verleiht ihm das eine neue Identität? Vorübergehend zieht er zu seiner Schwester, lässt sich zum Softwarespezialisten ausbilden. Abends geht er gerne in Musiklokale und hat rasch wechselnde Beziehungen. Nichts Ernstes. Das Leben holpert so dahin. Dann lernt er seine zweite Frau kennen. Sie ziehen in eine gemeinsame Wohnung, leben miteinander. Materiell gesehen sind sie ein erfolgreiches Paar. Gemeinsam erarbeiten sie sich ein gutes finanzielles Polster. Sie kaufen Eigentumswohnungen. Eine auch im Ausland. Aber der Wohlstand, das ist nur die äußere Hülle. Das weich gepolsterte Umfeld eines unglücklichen Paares. Denn eigentlich sind sie zwei verletzte Kinder, die sich aneinanderklammern, um beim jeweils anderen Trost zu finden: Die Frau hat zwei gescheiterte Ehen hinter sich mit machohaften, unsensiblen Männern. Jürgen ist zu weich und zu wenig selbstsicher, um ihren ständigen Forderungen und Befehlen zu widersprechen. Er hatte ja nie gelernt, dass er auch mal bestimmend, zornig oder traurig sein darf. So gibt er ihren Wünschen nach. Verzichtet auf eigene, gibt sogar den Kontakt zu seiner geliebten Tochter auf.

In dieser Zeit, Jürgen ist vierzig, bricht die Epilepsie aus. Der erste schwere Krampfanfall wirft ihn geradezu aus dem gemeinsamen Bett. Es ist ein klassischer Anfall: Der Mensch verliert das Bewusstsein, schlägt mit steifen Gliedern wild um sich, beißt sich in die Zunge, hat Schaum vor dem Mund. Wenn man ihm helfen will, kann man ihn nur vorsichtig hinbetten, dort, wo er gerade liegt, und dann abwarten, bis der Krampf sich löst. Wiederum versucht Jürgen Fesl zu verstehen. Woher kommen diese Anfälle? Warum treten sie gerade jetzt auf? Er sucht Hilfe bei Ärzten und Therapeuten und überlegt auch eine Gehirn-Operation. Seit dieser Zeit muss er mit Anfeindung und Ausgrenzung leben. „Sie sind täglich spürbar“, sagt er. Als die Anfälle begannen, war er gerade dabei gewesen, eine Zusatzausbildung zu machen. Doch die Anmeldung wurde aufgrund seiner Epilepsie zurückgezogen. Nachdem die Anfälle auch im Büro vor dem Computer auftraten, wollten die Kollegen nicht mehr „mit so einem“ zusammenarbeiten.

Es folgten Kündigung und Frühverrentung. Damit war auch der berufliche Erfolg, der ihn so lange getragen hatte, verloren. Wie sollte er nun weiterleben? Jürgen Fesl zieht einen Schlussstrich. Nach zwanzigjähriger Lebensgemeinschaft beschließt er, sich von seiner Partnerin zu trennen. Der Freund, der ihn stets begleitet hatte, sagt, er hätte schon viel früher auf den Tisch hauen sollen. Doch Jürgen hat es auf seine Art gemacht. Die späte, aber endgültige Trennung von seiner Lebensgefährtin ist ein Akt der Befreiung, den er ganz bewusst so gewählt hat. Diesmal hatte er sich nicht von seiner Frau bestimmen lassen. Wie aber sollte er wieder ins Gleichgewicht kommen? Keiner wollte ihn anstellen. Über Heiratsvermittlungen versuchte er, eine neue Partnerin zu finden. Frauen interessierten sich für ihn. Man verabredete sich, traf sich, war sich sympathisch. Aber sobald er von seinen Krampfanfällen erzählte, war es aus.

Eines Tages kommt er auf die Idee, sich ein Ehrenamt zu suchen. Er trägt zunächst einmal Broschüren aus, die für Solarenergie werben. Bei diesen Botengängen liest er plötzlich den Namen seiner Tochter auf einem Türschild. Ist sie es wirklich? Er zieht Erkundigungen ein. Ja. Tatsächlich! Sie lebt wieder in München, offenbar unabhängig von der Mutter, seiner ersten Frau, die in Regensburg geblieben ist. Jürgen hat den dringenden Wunsch, Kontakt mit der Tochter aufzunehmen, sie wiederzugewinnen. Soll er es wagen oder wird sie ihn abweisen? Er ist schon so oft abgewiesen worden. Das macht ängstlich und unsicher. Aber Jürgen schafft auch diesen Schritt. Die Tochter akzeptiert ihn. Heute hat er eine lose, gute Verbindung zu ihr.

Der nächste große Sieg über das, was ihm das Leben zumutete, stellte sich nach vielen Therapiesitzungen und neuen Lebensentscheidungen ein: Er bekam seine Krampfanfälle in den Griff. Nach langem Leiden konnte Jürgen die Epilepsie in eine mildere Form verwandeln: Kommt der Anfall, bleibt er ruhig im Sessel sitzen. Man muss nur abwarten, bis das Bewusstsein zurückkommt. Und damit sind wir endlich beim CBF angelangt!

Jürgen Fesl beim sommerfest des cbfDenn schließlich landete er auf der Suche nach einem Ehrenamt in unserem Club. Er hatte von uns gehört. Kam auch mal zufällig in die Johann- Fichte-Straße, an den Schaufenstern unseres Büros vorbei. Er stellt sich vor. Frau Wufka und Frau Walla überlegen, wie sie ihn mit seinen Computerkenntnissen einbeziehen könnten in unseren Arbeitsalltag. Da kommt Hanne Kamali dazu. Sie hatte gerade mit den Recherchen zum Restaurantführer des CBF begonnen. Das war’s! Seither arbeitet Jürgen Fesl für die Projekte, die Hanne betreut. Er hält sie übrigens für die beste Chefin der Welt. Und wer möchte ihm da widersprechen? Regelmäßig gibt er die von unseren Helfern gesammelten Daten in den Computer ein. So ist er ein beliebter Mitarbeiter geworden. Freundlich und zuverlässig. Wir rechnen mit ihm. Er gehört zu uns. Sollte er einmal nicht ins Büro kommen können, fällt das sofort auf. Und diese feste Bindung an den Club, die Verlässlichkeit seiner Person und die freundliche Zuwendung zum Büro-Team ist sicherlich ein weiterer Riesenschritt zu Jürgens Gleichgewichtsfindung. Er führt heute ein gelungenes Leben, so meinen wir. Und auch wenn er selbst nicht immer dieser Meinung ist, sich hart kritisiert – wir schätzen ihn sehr!

Ingrid Leitner