Einige Wochen nach einer erweiterten Vorstandssitzung des CBFs im November 2006 rief mich Herr Dieter Richthammer an und machte mich auf ein durch eine EU-Richtlinie und deren Umsetzung ins deutsche Recht hervorgerufenes Problem im Zusammenhang mit der Beförderung von Rollstuhlfahrern im Öffentlichen Nahverkehr aufmerksam, über das sich der CBF zweckmäßigerweise informieren und dann berichten sollte. Auch ohne eine konkrete Richtlinien-Nummer in der Hand zu haben, war ich überzeugt, der Sache ohne weiteres auf den Grund gehen zu können, ermöglichen doch im Zeitalter des Internets Datenbanken ohne weiteres eine Individualisierung der gesuchten Rechtsvorschrift ohne Probleme und Suchmaschinen liefern im Regelfall auch noch eine Fülle von Websites mit Hintergrundinformationen. In diesem Fall war dies leider ein Irrtum: auch nach stundenlangem Suchen konnte weder die entsprechende Richtlinie noch irgendeine Information zu dieser Thematik gefunden werden. Wieder einmal zeigte sich die Kehrseite der durch das Internet entstandenen Informationsfülle, die nur allzu oft in ein Informationsübermaß degeneriert, aus dem die entscheidenden Punkte eben nicht mehr herausgefiltert werden können.
Die Angelegenheit wurde daher erst einmal beiseite gelegt. Mitte September letzten Jahres erschien dann erstmals eine Meldung bei Kobinet über diese Thematik und in den letzten Wochen wurde in allen einschlägigen Organen, insbesondere im Internet, ausführlich darüber geschrieben, ja, am 8. Februar berichtete sogar das ARD-Mittagsmagazin darüber. Und so war es nun mit der noch im letzten Jahr erfolglosen Methode auch kein Problem mehr, alles zusammenzutragen, was für eine Auseinandersetzung mit dem Thema erforderlich ist.

Herr Richthammer kann diesen Artikel leider nicht mehr lesen, doch ist es sein Verdienst, dass die Problematik des Transports von Rollstuhlfahrern im Öffentlichen Nahverkehr von unserer Seite aus mit der ihr zukommenden Sensibilität wahrgenommen wurde und jetzt auch in der Clubpost den gebührenden Raum erhält. Aus diesem Grund sei auch dieser Artikel Herrn Richthammer gewidmet.

Welche gesetzlichen Vorschriften sind für die Mitnahme von Rollstuhlfahrern in Bussen überhaupt maßgeblich?

Wenn man sich Berichterstattung in Presse und Fernsehen ansieht, wird man – wie so häufig – nicht recht schlau, was jetzt letztendlich Sache ist und was genau getan werden müsste, um zu einer Verbesserung der derzeitigen Situation zu kommen. Aus diesem Grund empfiehlt sich zunächst ein Blick auf die in Frage stehenden Rechtsvorschriften: maßgeblich sind dabei einerseits die europarechtliche Richtlinie und andererseits die zur Umsetzung geänderte Straßenverkehrszulassungsordnung (StVZO).

Ausgangspunkt ist dabei zunächst die immerhin 102 Seiten umfassende Richtlinie 2001/85 vom 20. November 2001 mit der keine Unklarheiten mehr zulassenden Bezeichnung (!) „über besondere Vorschriften für Fahrzeuge zur Personenbeförderung mit mehr als acht Sitzplätzen außer dem Fahrersitz und zur Änderung der Richtlinien 70/156/EWG und 97/27/EG“, (Amtsblatt 2002, L 42 vom 13.2.2002, Busrichtlinie). Dessen Artikel 3 Absatz 1 schreibt insoweit vor, dass alle Fahrzeuge der Klasse I für Personen mit eingeschränkter Mobilität, einschließlich Rollstuhlfahrer, gemäß den technischen Vorschriften des Anhangs VII zugänglich sein müssen. Anhang I wiederum definiert unter Ziffer 2.1.1.1. Fahrzeuge der Klasse I als solche mit Stehplätzen, die die Beförderung von Fahrgästen auf Strecken mit zahlreichen Haltestellen ermöglichen. Davon sind also typischerweise die „klassischen“ Buslinien erfasst, die die innerstädtischen Routen bedienen, man denke etwa an die Museumslinie in München. Hinsichtlich anderer Busse - also beispielsweise Reisebusse, die üblicherweise nur sitzende Fahrgäste befördern - steht es den Mitgliedstaaten frei, die geeignetste Lösung für eine Verbesserung der Zugänglichkeit zu wählen, Absatz 2. Eine Beachtung der Vorschriften des Anhangs VII zur Richtlinie ist jedoch bei der Ausstattung von Einrichtungen für Personen mit eingeschränkter Mobilität und/oder Rollstuhlfahrer auch insoweit vorgeschrieben. Ziffer 3.2. dieses Anhangs schreibt sodann mindestens vier Behindertensitze in Bussen der Klasse I vor. Jeder Omnibus dieser Klasse muss mindestens einen Rollstuhlstellplatz haben und Ziffer 3.6.1. legt insofern ausdrücklich fest, dass „für jeden Rollstuhlfahrer, für den der Fahrgastraum eingerichtet ist, … ein Rollstuhlstellplatz vorhanden sein“ muss. Artikel 8, Absatz 1 der Richtlinie sieht schließlich eine Umsetzung durch die Mitgliedstaaten bis spätestens 13. August 2003 vor.

Eine Umsetzung erfolgte sodann mit der 36. Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 22. Oktober 2003 (Bundesgesetzblatt Nr. 52, S. 2085 vom 31.10.2003), die noch am 1. November 2003 (aber immer noch nach dem von der EU bestimmten Datum zur Umsetzung) in Kraft trat, wobei nach dem Willen des Gesetzgebers den Vorgaben der Richtlinie zum einen durch Einführung eines § 30 d StVZO, Neufassung der Absätze 1 und 2 des § 34 a StVZO sowie Änderung der Bußgeldvorschriften des § 69 a Absatz 3 StVZO, zum anderen durch eine Ergänzung des Anhangs durch einen Verweis auf den bereits in Bezug genommenen Anhang VII der EU-Richtlinie entsprochen werden sollte. Während § 30 d StVZO lediglich die oben geschilderte Verpflichtung des Artikel 3, Absatz 1 der Richtlinie wiederholt, wonach die im Anhang enthaltenen technischen Bestimmungen zur Beförderung von Personen mit eingeschränkter Mobilität zu beachten sind und im Anhang einen Verweis auf den Anhang VII zur Richtlinie einführt, schreibt § 34 a, Absatz 1 StVZO vor, dass in einem nach Inkrafttreten der Änderung zugelassenen Bus nicht mehr Rollstuhlfahrer befördert werden dürfen, als im Fahrzeugschein Plätze eingetragen sind. Ist also im Fahrzeugschein eines Busses, der von der Münchner Freiheit zum Ostbahnhof fährt, nur ein Rollstuhlplatz eingetragen, darf ein Rollstuhlfahrer, der beispielsweise ab der Haltestelle am Englischen Garten mitfahren möchte, nicht zusteigen, wenn sich bereits ein Rollstuhlfahrer im Bus befindet. Dem Busfahrer wäre auch nicht unbedingt zu empfehlen, sich über das Verbot hinwegzusetzen, da § 69 a, Absatz 3, Ziffer 5 StVZO dies als Ordnungswidrigkeit ahndet und Nr. 201 des Bußgeldkatalogs eine Geldbuße von 50 € vorsieht und daneben auch das Punktekonto in Flensburg belastet wird.

Wie ist die ganze Sache zu Tage gekommen?

Nun wäre aber die Rechtslage bereits seit über vier Jahren so gewesen, wie eben beschrieben, ohne dass dies irgendjemanden, geschweige denn den in erster Linie betroffenen kommunalen Verkehrsbetrieben aufgefallen wäre, was letztendlich auch ein eindrucksvolles Bild davon gibt, wie sinnvoll eine übermäßige Regulierung sein kann, deren Inhalt selbst die in erster Linie als Adressaten anzusehenden Kreise nicht kennen. Erst als im September 2007 in Hamburg zwei Rollstuhlfahrer um den einen richtlinienkonformen Rollstuhlplatz in einem öffentlichen Bus streiten und die Hamburger Verkehrsbetriebe die Rechtslage genauer untersuchen, kommt ein Stein ins Rollen, der sich bis in die Berichterstattung dieser Tage weiterverfolgen lässt.

Wer trägt für gegenwärtige Situation die Verantwortung?

Dabei wird, je nach Autor und Tendenz der Berichterstattung, dem EU-Gesetzgeber, dem deutschen Verkehrsministerium als verantwortlicher Stelle für die Umsetzung der Richtlinie bzw. den kommunalen Verkehrsbetrieben der schwarze Peter zugeschoben. Bereits ein Blick auf die gesetzlichen Vorschriften zeigt aber, dass eine eindeutige Schuldzuweisung gar nicht möglich ist:
Die EU hat in ihrer Richtlinie mit keinem Wort die Mitnahme von zwei Rollstühlen in einem Bus verboten. Neben einer Mindestmitnahme von einem Rollstuhl wurden lediglich technische Anforderungen für einen Rollstuhlstellplatz niedergelegt. Wenn also, wie häufig, gesagt wird, nach der „Busrichtlinie“ nur noch ein Rollstuhlfahrer mitgenommen werden dürfe, ist dies eindeutig falsch. Die neue Regelung in der StVZO verbietet ebenso wenig, dass in jedem Omnibus mehr als ein Rollstuhlplatz eingerichtet und im Fahrzeugschein eingetragen wird. Sobald dies der Fall ist, können aber auch mehr als nur ein Rollstuhlfahrer mitgenommen werden.
Seit Inkrafttreten der geänderten StVZO zugelassene Omnibusse unterliegen zwar den genannten Bestimmungen, nachdem die ganze Problematik und deren Brisanz den kommunalen Verkehrsbetrieben aber offenbar bislang weitgehend unbekannt war, haben sie bei der Bestellung und Inbetriebnahme neuer Busse auch nicht darauf geachtet, wie viele Rollstuhlstellplätze in den Fahrzeugscheinen eingerichtet und eingetragen sind, da sie wie selbstverständlich davon ausgegangen sind, Rollstuhlfahrer, wie bisher, auch im Mehrzweckbereich mitnehmen zu können. Die Art der Umsetzung der Busrichtlinie in §§ 34 a und 69 a StVZO und das bis vor kurzem offenbar gar nicht vorhandene Bewusstsein der daraus resultierenden Folgen sind also für das derzeitige Dilemma verantwortlich.

Welche Auswege gibt es?

Doch was kann jetzt unternommen werden, um missliebige Folgen weitest möglich zu vermeiden? Keinesfalls sollen hier Busfahrer oder gar die zuständigen Busunternehmer zu zivilem Ungehorsam aufgefordert oder den staatlichen Stellen eine Nichtverfolgung von Ordnungswidrigkeiten nahe gelegt werden. Meines Erachtens ist ein Ausweg aus der derzeitigen Lage vielmehr nur durch ein zweigleisiges Vorgehen denkbar: einerseits müssten kommunale Verkehrsbetriebe und sonstige in Frage kommende Busunternehmen für in Zukunft zuzulassende Fahrzeuge sicherstellen, dass mindestens zwei Rollstuhlstellplätze im Fahrzeugschein eingetragen werden. Die diesbezüglich erforderlichen Kosten müssten daher dringend in der Öffentlichkeit thematisiert werden. Andererseits müsste die Bundesregierung die Formulierung des § 34 a StVZO und des § 69 a Absatz 3 Ziffer 5 StVZO dahingehend ändern, dass eine Mitnahme von Rollstuhlfahrern über die im Fahrzeugschein eingetragene Anzahl hinaus nicht mehr als Ordnungswidrigkeit zu ahnden ist, sondern unter gewissen Voraussetzungen kulanzweise toleriert wird. Nur auf diese Weise kann eine nicht hinnehmbare Diskriminierung Behinderter vermieden werden.

Wolfgang Vogl