"Wir sind jetzt dreißig Jahre im Club", sagt die blonde Petra Ottmann lächelnd.
Ihr Ehemann Otto schaut sie versonnen an und nickt bestätigend. Er ist es, der Buch und Tagebuch führt, die Fotos verwaltet und die Daten speichert. Er ist auch für alltägliche Einkäufe zuständig – wenn das Wetter es zulässt zumindest. Aber Otto ist abgehärtet und auch bei Regen und Wind im Rollstuhl unterwegs und nichts hält ihn davon ab, in die neue Fußballarena zu fahren, denn Petra und Fußball, das sind seine Liebe und seine Vorliebe und den beiden ist er ein Leben lang treu geblieben.

Petra war ihm aufgefallen, als er einundzwanzig war. Da hatte Otto schon einige Liebeleien und die heißblütige Anna aus Brescia hinter sich. Aber mit Petra war es ihm ernst: Bei einem Ferienaufenthalt in Italien vergnügten sich die beiden inmitten einer Clique junger Leute beim Camping, was man damals noch "Zelten" nannte. Am Strand trafen sie sich - hochgradig verliebt - zunächst heimlich, danach, zurückgekehrt in den Alltag, waren sie sich rasch einig: sie würden heiraten.
Drei Monate nach diesem Entschluss – Otto war begeisterter aktiver Fußballer – trat etwas ein, was ihn zwar zutiefst verunsicherte, aber in der Bedeutung für sein Leben, für ihrer beider Leben, noch keineswegs abzuschätzen war: Auf dem Weg zum Vereinsheim hatte er einen kleinen Schwächeanfall. Auf dem Fußballplatz angekommen, bat er den Trainer, ihn erst im zweiten Spiel einzusetzen. Der Trainer war einverstanden, doch die Verschnaufpause war vergeblich: Otto brach auf dem Spielfeld zusammen. Diagnose: Multiple Sklerose. Er machte sich kundig: Ja, hieß es, Multiple Sklerose, MS, sei eine schwere Krankheit, aber im so frühen Stadium sicherlich heilbar.
Petra und Otto blieben bei ihrer Entscheidung, sie wollten heiraten. Der Stadtpfarrer von St. Theresien war dagegen: Wer weiß, ob sie bei der Erkrankung des Ehemannes den göttlichen Auftrag des Kinderzeugens würden erfüllen können. Das war den beiden egal. Sie wollten heiraten, um ihre enge Bindung zu bekräftigen und - um eine gemeinsame Wohnung mieten zu können! Denn damals waren bürgerliche Mietsherren noch selten bereit, unverheiratet Paare zu beherbergen. Der Pfarrer also war dagegen, aber Pater Emmerich, ein Freund der beiden Heiratswilligen, war dafür. Sein Bruder hatte ebenfalls MS und deshalb traute er die beiden ohne zu zögern.

Foto OttmannsWas nun folgte, war eine Zeit großer Hoffnungen und schwerer Einbrüche. Otto hatte seine Lehre als Industriekaufmann abgeschlossen, leitete die Kalkulation der Firma, wollte aber Mittlere Reife und Abitur nachholen, um studieren zu können. Betriebswirt, das wäre sein Wunschberuf gewesen! Er hörte von der Evers-Klinik im Sauerland. Dieser Doktor Evers versprach, die MS-Erkrankung mit einer speziellen Körner-Diät und begleitenden therapeutischen Maßnahmen heilen, oder doch lindern, oder ihr rasches Fortschreiten aufhalten zu können. Otto unterzog sich einer Kur mit der Hoffnung auf vollkommene Heilung. Danach sah es tatsächlich so aus, als sei der Spuk vorbei. Doch plötzlich konnte Otto fast nichts mehr sehen. Die Krankheit hatte sich mit einem nächsten Schub bemerkbar gemacht. Wieder ging Otto zur Kur in die Evers-Klinik, kam zwar nicht geheilt nach Hause, aber es ging ihm deutlich besser. Die Sehkraft war zurückgekehrt und er konnte weiterarbeiten, insgesamt noch 7 Jahre. Aber die Lähmung schritt unaufhaltsam fort. Er musste aufgeben. Der Traum vom Betriebswirt war vorbei. In die Evers-Klinik kehrte er von da an jedes Jahr ein und stets kam er mit neuen Kräften zurück. Und auch wenn seine Freunde gutmütig über sein "Körnerfutter" spotteten – er hielt sich an die besondere Diät und es tut ihm bis heute gut, sich gesund zu ernähren.

"Warum seid Ihr dem CBF so lange treu geblieben? - Weil wir gute Freunde gefunden haben im Club, die sich vertragen und hervorragend zusammenarbeiten, und weil uns die vielen Projekte des Clubs, um die Stadt München behindertengerecht zu machen, interessiert haben", sagt Petra. Und die beiden Ottmanns waren tatsächlich überall dabei: Beispielsweise als der CBF eines Samstags 1986 eine Großaktion startete, um Autos, die ohne gültigen Parkausweis auf Behindertenparkplätzen abgestellt worden waren, von der Polizei abschleppen zu lassen. Wobei wir dokumentierten, wie lange die Polizei jeweils gebraucht hat, um am Tatort zu erscheinen, ob sie zögerlich abgeschleppt hat und wie die Besitzer der falsch parkenden Autos reagierten. Die Ottmanns waren wiederum dabei, als wir Museen, Kinos, Theater und viele andere öffentliche Gebäude in München abgeklappert haben, um die gesammelten Informationen in Merkblätter für Rollstuhlfahrer zusammenzufassen. Sie arbeiteten auch tatkräftig mit am ersten Münchner Stadtführer für Behinderte, den der CBF im Auftrag der Stadt München erstellt hat. Bei dieser Riesen-Aktion sind wir ausgeschwärmt, um die gesamte Altstadt auf die Zugänglichkeit von Geschäften, Lokalen und öffentlichen Gebäuden zu überprüfen. Als die Ottmanns einmal die Eingangstür zu einem teueren Juwelierladen ausmessen wollten, empörte sich der Besitzer: Bei ihm seien die Preise so hoch, dass sich das ein Rollstuhlfahrer sowieso nicht leisten könne, also kein Bedarf! Freundlich hingegen war man im extravaganten Modegeschäft des Herrn Mooshammer.

Und Otto hatte noch eine Sonderaufgabe: Viele Jahre lang besuchte er im Auftrag des CBF Schulen, erzählte den Schülern von seinem, dem normalen Alltag eines Rollstuhlsfahrers, und beantwortete ihre zahlreichen Fragen, auch die naheliegenden, aber selten gestellten: Wie er aufs Klo gehe, wollten die Kinder beispielsweise wissen. Otto erklärte es ihnen genau. Er wusste, dass sie mit dieser Frage die Scheu vor ihm, dem behinderten Menschen, verloren hatten. Das schafft nicht jeder! Als Ottos Behinderung zunahm, so dass er sich gelegentlich in einen Rollstuhl setzte, weil er zu Fuß nur noch kurze Strecken schaffte, bemühten sich die beiden um eine behindertengerechte Wohnung. Sie bekamen sie nicht, da Otto noch nicht völlig auf den Rollstuhl angewiesen war. Petra empörte sich heftig und schimpfte über diese Ungerechtigkeit. Sie ist überhaupt diejenige von beiden, die sich schneller aufregt, tobt und Brandbriefe schreibt – an die Krankenkasse, wenn die eine Rollstuhlreparatur nicht zahlen will, an den Vermieter, weil er den für Rollstuhlfahrer reservierten Garagenplatz anderweitig vermietet hat, oder an das Theater, das keinen Rollstuhl-Platz zur Verfügung stellt. Und sie setzt sich durch. Otto ist der Ausgleichende und Gelassenere. Er beruhigt sie, wenn sie sich in eine Sache verrennt, oder wenn sie sich ausgenützt fühlt, weil sie wieder einmal nicht "nein" sagen konnte, als man sie um Hilfe bat.

Und wie geht es einem, wenn die Krankheit immer weiter fortschreitet? Hält die Zuneigung, wenn ein Partner immer schwächer wird und Hilfe bei den täglichen Verrichtungen braucht? "Wir haben gemeinsam gelernt, uns auf immer wieder neue Situationen einzustellen", sagt Otto. Wie ist das mit der Sexualität, wenn die Beweglichkeit des Partners eingeschränkt ist? "Man findet stets einen Weg, auch die körperliche Liebe zu leben", sagt Petra. Wie bewältigen die beiden Tiefpunkte? Gemeinsam. Sie stützt ihn und er stützt sie. Und beide werden zudem gehalten von einem dichten, regelmäßigen Netz therapeutischer, kultureller und vergnüglicher Unternehmungen: Am Montag zum Clubabend in den CBF, 2-3 Mal in der Woche Ergotherapie und Gymnastik, alle 2 Wochen in die Malgruppe der MS-Gesellschaft, regelmäßig zum Fußball, zum Kartenspielen, ins Theater, ins Konzert, ins Museum und viele Ausflüge und Reisen.

Trotz alledem blieb Petra berufstätig; 40 Jahre lang hat sie bei der Bundesbahn gearbeitet. Als Petras Mutter nicht mehr alleine in ihrer Rosenheimer Wohnung leben kann, nehmen die beiden sie bei sich auf, zu beiderseitigem Vorteil – die Mutter macht kleine Handreichungen für Otto und wärmt das Essen auf, das Petra vorgekocht hat, bis diese am Nachmittag heimkommt und die anfallenden Arbeiten erledigt. Als die Mutter pflegebedürftig wird, bleibt nichts anderes übrig - sie muss ins Altenheim. Otto besucht sie dort, damit sie Ansprache hat – glücklicherweise ist das Haus auch Rollstuhlfahrern zugänglich - und Petra geht zweimal am Tag zu ihr, um ihr das Essen einzugeben, denn dazu hat niemand Zeit. Letztes Jahr ist die Mutter gestorben.

"Habt Ihr Euch eigentlich nie Kinder gewünscht oder hättet ihr gar keine bekommen können?" Petra lächelt leise. "Doch, manchmal ist der Wunsch schon da gewesen. Aber wir haben bewusst auf Kinder verzichtet. Man hat uns zwar gesagt, dass MS nicht erblich ist, aber wer weiß. Und wir hatten genügend damit zu tun, unsere Situation gemeinsam zu bewältigen und gut und glücklich zu leben." Am 28. März sind die beiden übrigens 40 Jahre lang verheiratet.
Den Termin bitte vormerken zum Gratulieren!

Ingrid Leitner