In Lindau am Bahnhof, gleich beim Hafen, haben wir uns getroffen: Meine Freundin Renate, im Elektro-Rollstuhl wie ich, und meine Freundin Monika, die gut zu Fuß sein musste, weil wir zwei Rollstuhlfahrerinnen manchmal schon ein flottes Tempo vorlegten. Aber wenn es ihr zu schnell wurde, schlenderte sie einfach langsam hinter uns her, bis wir merkten, dass sie zurückgeblieben war, und auf sie warteten.
Doch von Anfang an: Renate hatte in Kempten, im Hotel "Waldhorn", ein behindertengerechtes Zimmer für uns bestellt, das man nur empfehlen kann: Hell, sauber, ausreichend groß und mit einem erstaunlich geräumigen Bad, in dem man als Rollstuhlfahrer tatsächlich duschen, gut auf die Toilette gehen und sich die Hände waschen kann. Sonderwünsche, wie eine zusätzliche Matratze oder ein Holzbrett, um das Bett zu erhöhen, wurden freundlich erfüllt. Das Frühstück war reichlich, von guter Qualität - bester Allgäuer Käse, feiner Schinken und frische Eier!

Am nächsten Tag trafen wir uns dann - wie gesagt - am Lindauer Bahnhof und fuhren mit dem Linienbus etwa eine halbe Stunde hinauf durch kleine Ortschaften bis nach Unterreitnau mitten in den Obstgärten. Für mich ein erhebendes Erlebnis, da ich so selten mit einem öffentlichen Verkehrsmittel fahren kann! Neben uns saß eine ältere Dame, eine Dichterin, wie sie selber sagte, die uns einen ihrer Verse rezitierte:
Die Engel fliegen in der Natur
Frieden herrscht und Freude nur

(...mehr konnte ich mir nicht merken!)

Nachdem wir uns von der liebenswürdigen Dame verabschiedet hatten und ausgestiegen waren, zeigte uns der Blick in die Runde, was für einen idealen Zeitpunkt wir für unsere Blütenwanderung erwischt hatten: Es blühte alles und alles gleichzeitig! Die Kirschen, die Birnen, die Apfelbäume, der Flieder und die Glyzinien! Auf schmalen, gewundenen, meist wenig befahrenen Straßen, die nur die kleinen Orte und die Einzelhöfe der Obstbauern miteinander verbanden, schlängelten wir uns durch die blühenden Bäume langsam hinunter zum See. Hier ein Kirschgarten mit seinen reinweißen Blüten, dort, über die gelbgrünen Wiesen verstreut, oder am Dorfrand entlang: riesige alte Birnbäume, die den Asphalt dick mit ihren Blütenblättern berieselt hatten - man hätte hier direkt heiraten können, der Blumenschmuck war aufs schönste vorbereitet! - aber auch die Obstplantagen, die ich eigentlich nicht so schön finde wie die großen unbeschnittenen Bäume, hatten in der Dichte und Blütenfülle ihren Reiz - da gab es eine Apfelsorte mit ungewöhnlich großen Blüten - strahlendweiß, und dann welche, die intensiv rosa waren, nicht nur als Knospen, sondern auch wenn sie sich öffneten - eine hellrote Wolke!

So ging es die Hügel hinauf und hinab, rechts in ein Wiesental hinein und linksherum an Bauernhöfen vorbei. Einer hatte einen gemauerten Pferdestall, wie ein Haus so schön, wo Pferdeköpfe aus den Fenstern schauten und sich verwundert nach uns umdrehten. Da die Luft warm und diesig war, erschien der See weit weg - schwebte als feiner Streifen graublau vor dem Himmel, verschwand hinter dem nächsten Hügel, um eine halbe Stunde später, schon etwas näher gerückt, wieder in unserem Blickfeld aufzutauchen. Dann erreichten wir die ersten Villen mit ihren Parkanlagen, in denen die Tulpen und Vergissmeinnicht blühten und die letzten Magnolien. Unsere erste Rast war auf dem Lindenhof: Ein sanfter Hang, der zum Seeufer hin abfällt, locker, wie ein englischer Garten bepflanzt mit meist exotischen Nadelbäumen und immer wieder dazwischen - wie ein Leitmotiv und daher auch der Name - Linden, leuchtend hellblättrige, deutsche Linden. Ein reicher Kaufmann hatte um die Wende zum 20. Jahrhundert hier eine elegant proportionierte, lichtdurchflutete Villa erbaut und den Park mit eigenem Gondelhafen angelegt. Er liegt auch hier begraben, ein wenig erhöht, und die an seinem Grab stehen, haben einen freien Blick auf den See.

Dann ging's das Ufer entlang nach Bad Schachen, zu einer erfrischenden Kaffeepause und danach kam der Endspurt nach Lindau zurück. Da musste Monika eine Weile meinen Rollstuhl schieben, weil der inzwischen schlapp gemacht hatte. Dann fuhr er wieder und wir landeten bei strahlendem Sonnenschein - es war noch wärmer geworden - im Lindauer Hafen. Die Cafes waren besetzt, in den Eisdielen wimmelte es, und inmitten des flanierenden Publikums viele Psychotherapeuten, denn in Lindau fanden gerade die 57. Lindauer Psychotherapiewochen statt.
In ihrem Gefolge offenbar auch einige Seltsamkeiten: Ein schlanker Mann unbestimmbaren Alters, mit Rauschebart, Trachtenhut und sehr kurzer Lederhose, die viel von seinen zwei wohlgeformten, käsweißen Beinen sehen ließ. Auf dem Plakat vor seinem Tischlein stand, dass er selbstgeschnitzte Edelweiß verkaufte. Einige Exemplare steckten an seinem Tirolerhut. Er hielt die Spaziergänger an und erklärte ihnen die neuesten Tendenzen der Psychotherapie. Manche blieben widerstrebend stehen, gebannt von seiner Predigerstimme, andere schlichen sich peinlich berührt davon.

Wir aber waren nach so einem paradiesischen Tag satt und faul und verabschiedeten uns deshalb bald. Da hat der Löwe am Lindauer Hafen uns verständnisvoll zugeblinzelt. Ich hab's genau gesehen! Doch was, glauben Sie, würden die Lindauer Psychotherapeuten zu dieser meiner letzten Beobachtung sagen?
Ingrid Leitner