Vögelgezwitscher, blühende Natur, pulsierendes Leben, wer denkt an einem schönen und lauen Sommerabend schon daran, bei herabgelassenen Jalousien sich auf eine Dunkellesung einzulassen, anstelle der angenehmen visuellen Reize sich ganz einer Stimme anzuvertrauen und mit ihr der eigenen Phantasie und dem eigenen Vorstellungsvermögen Raum zu geben?

Eine kurze Suche ergibt, dass tatsächlich mehrere Sprecher solche Dunkellesungen veranstalten, bei denen die Zuhörer durch nichts von der Kraft des Textes und der Stimme des Sprechers abgelenkt werden, die sich aber naturgemäß nur für solche Sprecher eignen, die entweder selbst sehbehindert oder zumindest der Brailleschrift mächtig sind.

Reiner Unglaub macht (auch) solche Dunkellesungen. Der 1942 in Thüringen geborene Sprecher ist von Geburt an blind, absolvierte seine Schulbildung an den Blindenschulen in Weimar und dem damaligen Karl-Marx-Stadt sowie in Königs Wusterhausen, studierte Sprechwissenschaften und Germanistik in Halle und arbeitete dann als Sprecherzieher des Berliner Rundfunks. Nach politischen Schwierigkeiten studierte er Theologie und war anschließend Gemeindepfarrer in Naumburg, bevor er 1984 von einem BRD-Besuch nicht mehr zurückkehrte. Seit 1985 ist Reiner Unglaub schließlich für die Deutsche Blindenstudienanstalt in Marburg und die Bayerische Blindenbücherei in München tätig, Sprecher in Produktionen des Bayerischen Rundfunks und des Verlags und Studios für Hörbuchproduktionen. Die Liste der von Reiner Unglaub gelesenen Werke ist lang und erstreckt sich von der Bibel über Werke von Größen deutscher Literatur wie Stefan Zweig, Gottfried Keller oder Heinrich von Kleist bis zu denjenigen von russischen Autoren wie Maxim Gorki. Daneben stellt Reiner Unglaub regelmäßig Autoren im Theater Viel Lärm um Nichts in der Pasinger Fabrik vor, so letztens Böll oder St.Exupéry.

Doch wer sich wirklich auf die Stimme einlassen, sich von ihrer Ruhe und Ausgewogenheit gefangen nehmen lassen möchte, dem sei eine Dunkellesung von Reiner Unglaub nachdrücklich empfohlen.

Wolfgang Vogl