Im Staat Washington (USA) wurde zur Jahreswende ein Fall bekannt, dessen Tragweite für Behinderte – insbesondere schwerst geistig und körperlich behinderte Menschen – noch gar nicht absehbar ist.

Was war die Ausgangsposition bei dem behinderten Mädchen?
Das mittlerweile neun Jahre alte Mädchen Ashley kam zunächst ohne Schwierigkeiten zur Welt.
Sehr schnell stellte sich jedoch heraus, dass Ashley schwerst geistig und körperlich behindert
war: Ashley kann bis heute weder sitzen, noch den Kopf aufrecht oder ein Spielzeug in den Händen halten und wird durch eine Sonde ernährt. Stehen, Gehen oder gar Sprechen sind gänzlich unmöglich. Ärzte bezeichneten dies als statische Enzephalopathie ohne Hoffnung auf Besserung
oder Heilung, auf Grund derer sich Ashley ein Leben lang im Zustand eines Babys befinden werde.
Als sich im Alter von sechseinhalb Jahren bei Ashley Anzeichen einer verfrühten Pubertät zeigten - Ashley hatte bereits seit einem Jahr Schamhaare; nunmehr begannen auch die Brüste zu sprießen -schalteten Ashleys Eltern die Ethikkommission des Kinderkrankenhauses von Seattle ein.

Welche Maßnahmen wurden ergriffen?
Diese befürwortete nach Einbeziehung zweier Hormonspezialisten eine Reihe von Maßnahmen, die in den darauffolgenden Jahren auch durchgeführt wurden. Zunächst wurden Gebärmutter
und Brüste entfernt, erstere um dem Risiko eines Gebärmutterhalskrebses im Rahmen einer danach folgenden Hormontherapie und Beschwerden bei einer einsetzenden Menstruation vorzubeugen, letzteres zur Vermeidung großer Brüste, die Ashley behindern könnten. Zudem war dies damit begründet worden, dass Ashley (auch aufgrund der entfernten Gebärmutter) niemals stillen werde und dass so das in ihrer Familie bestehende, hohe Brustkrebsrisiko vermieden werde. Nach diesen Eingriffen wurden Ashley sodann hohe Dosen des Hormons Östrogen durch alle drei Tage zu wechselnde Hormonpflaster zugeführt, die das Wachstum von Ashley auf 1,30 Meter und dementsprechend ihr Gewicht auf ca. 34 kg begrenzen.

Was sagt die UN-Konvention diesen Maßnahmen?
Die USA haben zwar bereits angekündigt, die Konvention zur Förderung und zum Schutz der Rechte und Würde von Menschen mit Behinderungen nicht zu unterzeichnen, dennoch lohnt sich ein Blick auf den Text dieses völkerrechtlichen Instruments.
Einschlägig erscheinen insoweit drei Vorschriften der Konvention: zunächst schützt Art.17 die Unversehrtheit behinderter Personen und verbietet in Absatz 2 Zwangseingriffe. Art. 23 des Konventionsentwurfs befasst sich sodann mit der Achtung von Heim und Familie und fordert die Mitgliedstaaten unter anderem dazu auf, dafür zu sorgen, dass behinderte Menschen sexuelle und andere intime Beziehungen unterhalten können. Art. 25 schließt schließlich Diskriminierungen Behinderter im Gesundheitswesen im weitesten Sinn aufgrund ihrer Behinderung aus.
Bereits ein erstes Durchlesen dieser Vorschriften wirft Fragen auf: Handelt es sich bei den Eingriffen an Ashley um Zwangseingriffe oder deckt die Zustimmung (oder vielmehr die Initiative) der Eltern die fehlende und wohl gar nicht mögliche Einwilligung Ashleys selbst? Können Dritte weit reichende Eingriffe an einem Behinderten überhaupt entscheiden? Wenn ja, unter welchen Voraussetzungen?
Und gibt es insoweit Grenzen bei unumkehrbaren Maßnahmen, wie beispielsweise bei einer Sterilisation durch Gebärmutterentnahme?

Unterschiedliche Positionen zu diesem Problem
Maßgebliches Argument nach Angaben der Eltern zu Gunsten der Durchführung dieser Maßnahmen, die von den Eltern selbst unter dem Stichwort "The Ashley treatment" (Die Ashley-Behandlung) zusammengefasst wurden, war das Wohlbefinden des Kindes: durch die Entfernung der Gebärmutter entfielen Menstruationsbeschwerden; durch die Entfernung der Brüste werde vermieden, dass diese im ausgewachsenen Zustand drückten und hinderlich wären; durch eine Beschränkung des Wachstums habe Ashley weniger Schwierigkeiten beim Liegen und könne weiterhin in ihrem 2007Zwillingskinderwagen herumgefahren, geherzt und getragen werden, kurz stärker und ihrer Behinderung gerechter am Familienleben teilnehmen. Der Zustand Ashleys nach den erfolgten Eingriffen sei damit mehr mit ihrer Würde vereinbar. Zudem sei die Pflege Ashleys ein zentrales Argument: es sei kein qualifiziertes, vertrauenswürdiges und bezahlbares Pflegepersonal zu finden gewesen, und überhaupt habe man Ashley nicht an fremde Hände verlieren wollen.
Gegen diese Behandlung haben sich dagegen Abgeordnete von SPD, CDU und FDP sowie Behindertenverbände mehrerer Länder ausgesprochen, da es sich hierbei um eine herbeioperierte „Pflegeleichtigkeit“ handele und man eine „Peter Pan Option“ für moralisch falsch halte. Dass die Eltern von Ashley diese Eingriffe haben durchführen lassen, beweise letztendlich den Mangel staatlicher und gesellschaftlicher Unterstützung. Behindertenorganisationen
betonten insbesondere, dass auch jeder behinderte Mensch das Recht habe, sein Leben voll auszuschöpfen. Zudem handele es sich nach Auffassung vieler Kritiker im Internet bei der Behandlung Ashleys um einen nicht hinnehmbaren Eingriff in die Natur. Man spiele Gott oder das Ganze sei ein Fall von Eugenik.
Ganz spontan, ohne auch nur das Für und Wider der Vorgehensweise im einzelnen abgewogen oder ethische oder moralische Implikationen genau bedacht zu haben, sträubt sich etwas in mir bei dem Gedanken an die Vorgehensweise von Ashleys Eltern und der Vorwurf eines Kritikers im Internet, man könne ihr ja auch die Beine abnehmen, da sie diese gleichfalls nicht brauchen werde und dadurch „handlicher“ werde, erscheint gleichermaßen erschreckend wie zutreffend.
Daran ändert auch der Einwurf nichts, schließlich sei ja auch die Anbringung einer Zahnspange oder selbst das Haare- oder Nägelschneiden ein Eingriff in die Natur.Nicht nur Juristen dürfte der Begriff der Verhältnismäßigkeit bekannt sein, und während dieses Kriterium bei dem oben erwähnten Eingriff der Zahnspange oder beim Haare- oder Nägelschneiden relativ leicht zu bejahen sein dürfte, ergeben sich im Falle unumkehrbarer Maßnahmen, wie einer Gebärmutterentnahme, einer Amputation
der Brüste oder einer Beschränkung des Wachstums, gewichtige Bedenken. Einen Menschen durch gezielte Eingriffe manipulativ so zu formen wie er am leichtesten zu handhaben ist, kann durch nichts gerechtfertigt werden – weder bei Menschen mit noch ohne Behinderungen.
Wo sind die Grenzen und wer entscheidet, was für wen sinnvoll (bzw. praktisch) ist? Aldous Huxley hat in seiner „Schönen, neuen Welt“ eine Gesellschaft beschrieben, deren Mitglieder bereits im embryonalen Zustand auf ihr zukünftiges Leben, ihren zukünftigen Beruf durch entsprechende
Eingriffe vorbereitet werden. Das droht wahr zu werden.

Wolfgang Vogl