Seit 2005 findet im Volkstheater einmal jährlich das Festival „Radikal jung“ statt, bei dem junge Regisseure aus ganz Deutschland sowie Gäste aus dem Ausland eingeladen werden, ihre Produktionen zu zeigen. In den vergangenen Jahren konnte man so Ungewohntes und Verstörendes sehen wie Milo Raus „Hate Radio“ über den Völkermord in Ruanda oder eine französische Dramatisierung von Houellebecqs „Elementarteilchen“.

Dieses Jahr ist Inklusion im weitesten Sinn der Schwerpunkt des Festivals: die ukrainische Aufführung von „R + J“ beschäftigte sich mit Inklusion im politischen Sinn und Samuel Koch (richtig, der Kandidat, der bei einer Sendung von „Wetten dass …“ so schwer verunglückte, dass er seitdem querschnittgelähmt ist) spielte Kleists Prinz von Homburg. Noch einen Schritt weiter geht eine Gruppe aus Gießen namens Monster Truck, die in dem Stück „Dschingis Khan. Eine Völkerschau“ Schauspieler mit Down-Syndrom Mongolen darstellen lässt. Vor nicht allzu langer Zeit wurden Menschen mit dieser Genmutation aufgrund ihrer typischen körperlichen Merkmale allgemein als mongoloid bezeichnet, das Stück spielt also bewusst mit dieser abwertenden Bezeichnung. Aber darf man das? Ich bin gespannt, was mich erwartet.

Die offene Bühne beim Betreten des Zuschauerraums irritiert zunächst: Das Bühnenbild stammt offenbar von einer vorher aufgeführten Show, wie ein Schild mit der Aufschrift „Wild West Show“ über dem hölzernen Podest und die Dekoration vermuten lassen, doch nach und nach tauschen eifrige Mitarbeiter alle Utensilien aus und bringen anstelle von „Wild West“ das Schild „Mongolia“ an. Zuletzt lässt die „Regisseurin“ aus dem Podest drei Schauspieler mit Down-Syndrom auftauchen, die durch Langhaarperücken und Kostümierung als Mongolen kenntlich gemacht werden. Danach beginnt eine Völkerschau, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland in Mode war und damals beispielsweise auch auf dem Oktoberfest gesehen werden konnte. Eingeblendete Überschriften kündigen als typisch angesehene Aspekte mongolischen Lebens an, wie das Bogenschießen, das Trinken vergorener Stutenmilch oder das Spielen volkstümlicher Musik und die drei Schauspieler stellen diese Aspekte als menschliche Tableaus dar. Dabei werden sie allerdings von der als Regisseurin auftretenden Schauspielerin bis ins kleinste Detail dirigiert, korrigiert und mitunter auch belehrt und bestraft. So wird Jonny mehrmals aufgefordert, ins Publikum zu schauen. Als Sabrina die Hände nicht „richtig“ hält, bringt die Regisseurin sie in Position. Die Schauspieler dürfen sich anhören, dass synchron eben gleichzeitig bedeutet, als sie sich gerade nicht synchron bewegen und Sabrina darf keine Stutenmilch mehr trinken, als sie irgendetwas nicht wie gewünscht macht, ihr wird das Glas aus der Hand genommen, der Inhalt verschüttet. Unbehagen stellt sich ein. Die Schauspieler gehorchen gleichmütig, lassen sich alles gefallen. So erscheinen sie wie unmündige Objekte in der Hand der Regisseurin, die aufgrund ihrer Behinderung gar nicht anders können, als den Anweisungen Folge zu leisten. Aber sind sie das? Immerhin handelt es sich dabei um professionelle Schauspieler. Und leistet nicht jeder Schauspieler, auch der nicht behinderte, den Anweisungen seines Regisseurs Folge? Und doch – habe ich nicht selbst mit gelacht, als die Schauspieler wieder einmal zurecht gewiesen wurden?

Schnitt: Plötzlich sind Regisseurin und sonstige Mitarbeiter verschwunden, die drei als Mongolen verkleideten Schauspieler stehen allein auf der Bühne. Einer der drei Schauspieler regelt die Musik, ein anderer stampft auf dem Podest, Sabrina öffnet eine Tüte Chips und bietet sie dem Publikum an, Totenschädel werden von einem enormen Katapult in den Zuschauerraum geschossen und die beiden männlichen Darsteller reiben sich an Eisenstangen. Entgleist die Vorstellung jetzt? Verfalle ich da nicht umgekehrt in eine stereotype Denkweise, wenn ich davon ausgehe, Menschen mit Down-Syndrom könnten nicht allein, das heißt ohne permanente Aufsicht Theater spielen? Bin nicht ich es, der behinderten Menschen nicht zutraut, allein auf der Bühne zu stehen und sie lieber einer beschützenden, aber bevormundenden Obhut anvertraut sehen möchte? Diese Fragen scheine nicht nur ich mir zu stellen. Einige Zuschauer möchten sich dem nicht weiter aussetzen und verlassen das Theater.

Aber natürlich passiert nichts. Regisseurin und sonstige Mitarbeiter tauchen nach einiger Zeit so plötzlich wieder auf, wie sie vorher verschwunden waren. Die Mongolenschau endet und danach beginnt eine Cannibal Show mit den vordem als Mongolen kostümierten Schauspielern als Baströckchen tragende Kannibalen und die Vorstellung ist zu Ende.

Die vielen in dieser etwa eineinhalb Stunden dauernden Vorstellung enthaltenen Brüche mögen nicht jedermanns Geschmack sein, selten wurden jedoch meine als sicher geglaubten Überzeugungen so grundsätzlich in Frage gestellt wie durch diese Aufführung.

Wolfgang Vogl