Eine Fahrt über 800 Kilometer an einem Tag - das ist mir zu anstrengend - deshalb haben wir in Dresden Halt gemacht, meine Freundin Monika und ich, und zufällig sind wir in demselben Hotel (IBIS LILIENSTEIN) gelandet, in dem wir damals, als wir mit dem Club Dresden besuchten, gemeinsam übernachtet haben. Hier erlebten wir eine Überraschung, die zeigt, dass wir manchmal doch erstaunliche Fortschritte machen: Damals hatte ich ein Bett, in das ich nur unter höchst verqueren Umständen gelangen konnte - heute bietet dasselbe Hotel ein behindertengerecht ausgestaltetes Zimmer und sogar ein Pflegebett mit drei Motoren, das heißt, Fußteil, Kopfteil und das Bett insgesamt sind elektrisch höherverstellbar! Zimmer 703 - aber auch die anderen beiden IBIS-Hotels am Platz - so wurde uns gesagt - glänzen mit behindertengerechten Zimmern und Pflegebetten!

Beschwingt durch solch glückliche Umstände fuhren wir am nächsten Tag weiter nach Markgrafenheide an der Ostsee, in ein kleines Hotel (Hotel Heidehof), das aus lauter ebenerdigen bungalow-artigen Zimmern besteht, in dem wir schon vor einigen Jahren auf der Clubreise nach Mecklenburg-Vorpommern gewohnt haben. Es liegt, von blühenden Büschen und Kletterpflanzen umwachsen und vom Wald beschirmt, im Nationalpark Rostocker Heide. Romantischer und wildwüchsiger geht es nicht.

Bei so viel Natur muss man dann allerdings auch Spinnen und Stechmücken in Kauf nehmen, wobei man sich damit trösten kann, dass die Spinnen unermüdlich dabei sind, die Mücken zu jagen und zu fressen. Und wieder eine äußerst angenehme Überraschung - auch hier bekommt man auf Anfrage ein elektrisch betriebenes Pflegebett ins Zimmer gestellt!

Wer damals auf der Clubreise dabei war, wird sich an Herrn Wagner erinnern, diesen Tausendsassa, der alles kann - Kochen, verschiedenste Reparaturen, Gäste bei Laune halten und andere nützliche Dinge. Hinzugekommen ist eine ebenso freundliche Frau Grumm, die die Gäste empfängt, stets Hilfestellung gibt, etliche Geheim-Tipps kennt und die verschiedensten Ausflüge empfehlen kann. Sie ist in diesem Landstrich geboren und ein prächtiges Beispiel für den geduldigen, ruhigen Menschenschlag an der Küste. Und gleich am nächsten Tag gings los: wir besuchten die alten Hansestädte rundherum, mit ihren imposanten Backsteinkirchen, ihren stolzen Ratsgebäuden und wohlhabenden Bürgerhäusern: Wismar, Rostock, Stralsund. Auch in den mehr oder weniger berühmten Seebädern haben wir uns umgeschaut: da gibt es das verschlafene Bad Doberan, in dem die Zeit ein wenig hängen geblieben ist, das aufpolierte Bad Kühlungsborn mit seiner leichten weißen Bäderarchitektur und das Seebad Warnemünde, behäbig und lang eingesessen, mit seinen Esslokalen, Cafes und Kleiderläden am alten Yachthafen entlang und einer großzügigen Seepromenade als Querriegel vor den Badestränden.

Wie aber kommt man als Rollstuhlfahrer an den Strand und ans Wasser? Das ist an der Ostsee gar nicht so einfach. Bevor man überhaupt das Meer sehen kann, muss man meist eine hohe Düne überwinden und bis zum Wasser auch noch einen breiten Sandstrand durchqueren. In diesen natürlichen Barrieren versinkt man mit dem Rollstuhl hoffnungslos - mit dem Kinderwagen übrigens auch -, falls nicht ein Bohlenweg bis zum Wasser führt. In Warnemünde beispielsweise gibt es einen mit Brettern und Gummiplatten belegten Pfad, der es auch dem Elektro-Rollstuhlfahrer ermöglicht, ganz bis zum Wasser zu gelangen, wo der Sand durch die anrollenden Wellen feucht und deshalb fester ist, so dass man nicht mehr so rasch einsinkt. Wie man dann ins Wasser kommt, ist jedem selber überlassen - Einstiegshilfen haben wir keine gefunden. Trotzdem ist die große Anzahl der Rampen und abgesenkten Bordsteine in diesen Städten überraschend - auch in jede Backsteinkirche kommt man problemlos hinein. Das ist eine große Leistung, vor allem wenn man bedenkt, dass die Staatsmacht vor der Wende offiziell verlautbarte, dass es in der DDR keine Behinderten gibt, wie Frau Grumm uns erzählt hat. Ja und dann stehe ich also auf einer Holzplattform am Strand und habe das Meer vor mir. Eine überwältigende Erfahrung - die unbegrenzte Weite, der dramatisch mit fliehenden Wolken übersäte Himmel, die rasch wechselnde Farbenpracht des Wassers, das Grau-Blau-Rußgelb der Wolken, das sich zu einem schwarzen Lila verfinstert, als eine Regenwand sich aufs Festland zubewegt, der Wind, der plötzlich aufholt und einen wegzuwehen droht, und diese Luft, Inbegriff von Frische, ein Duft, so salzig und herb und süßlich zugleich, ein Duft, der scharf und schwer wird, sobald man in einen Hafen kommt, weil er den Geruch von Fischen und Algen, altem Holz, rostigen Schiffskörpern und brackigem Hafenwasser in sich trägt. Und dieses unablässige Anbranden der Wellen. Dann plötzlich reißt die Regenwand auf und es entsteht ein Wolkenloch, eine Öffnung, aus der flüssiges Gold dringt und die untergehende Sonne schickt ihre schrägen Strahlen über das Wasser, glanzvoll und verschwenderisch. So und anders und immer wieder neu ist diese Landschaft am Meer. Man könnte süchtig werden! Die Menschen, die wir getroffen haben, waren reizend und hilfsbereit, gelegentlich aber auch noch ausgestattet mit der alten DDR-Beamtenmentalität, die den Kunden zum Untertanen macht. Man kann sich das gut vorstellen, wenn man an einen Besuch in einem hiesigen Amt denkt, wo sich auch noch nicht ganz herumgesprochen hat, dass wir freie Bürger sind - und so geht es im östlichen Deutschland eben manchmal noch in Supermärkten oder Restaurants zu. Bis sich das ändert, wird noch einige Zeit vergehen - dort wie hier.

Gegessen haben wir ausschließlich Fisch - immer fangfrisch - aber die Küstenbewohner lieben auch deftige Fleischspeisen, so dass man schon ein wenig suchen muss bis man ein richtiges Fischlokal entdeckt. Die Fußgängerzone in Rostock beispielsweise ist übersät mit kleinen Ständen, in denen es Thüringer Bratwürste, Pizza, Döner, Hotdogs oder Softeis gibt. Und dazwischen ein junger Mann, der die Leute mit seiner Predigt irritierte: "...denn der Teufel ist nahe und überall und wenn ihr nicht umkehrt, dann werdet ihr in der Hölle landen, nicht im Fegefeuer, das gibt es gar nicht, nein, in der Hölle direkt werdet ihr landen. Und werft ihn weg, Euren Fernsehapparat, der ist auch des Teufels, und ehret Eure Eltern, dann wird es Euch wohl ergehen auf Erden. Und diese Homosexuellen, sogar der Berliner Bürgermeister ist einer. Wer hat ihn gewählt? Ihr habt ihn gewählt" - ein älteres Paar flüchtete schnellen Schrittes!
- "und hinterher wars wieder keiner, genau wie immer! Und Ehebruch - Ehebruch sollst Du nicht begehen. Schon wenn Du eine andere Frau anschaust, ist das Ehebruch!" Er fixierte einen jungen Mann, der rasch einen Haken schlug, während ein junges Paar abwehrend seinen Kinderwagen zwischen sich und den Prediger schob.
- "Und hütet Euch vor der Sünde. Die Hölle und der Teufel sind nahe, sie lauern schon!" Und so weiter - bis ein Filmteam, das sich auf dem Universitätsplatz zu schaffen machte, ihn freundlich wegbugsierte.

Auf der Heimfahrt haben wir noch einmal in Dresden Station gemacht. Es war der letzte warme Sommerabend - bisher. Die Altstadt war festlich beleuchtet, die Besucher flanierten an der Semperoper vorbei zum neu herausgeputzten Taschenbergpalais, das jetzt ein Kempinski-Hotel beherbergt. Wir haben im geräumigen Cafe Bistro AM SCHLOSS zu Abend gegessen. Ich erwähne das deshalb, weil die Gerichte außerordentlich wohlschmeckend waren und trotzdem preiswert - und weil das Lokal über eine behindertengerechte Toilette verfügt. Dann weiter zur wieder aufgebauten Frauenkirche. Es war schon nach 9 Uhr abends und trotzdem konnte man noch eintreten. Ein Besuch ist dringend zu empfehlen! Für Behinderte findet sich eine stabile Hebebühne am Eingang C, die von freundlichen Herren bedient wird. Und dann steht man im riesigen Rund dieses barocken Zentralbaus. Er wirkt theaterhaft und streng zugleich. Man sieht, dass es eine evangelische und keine katholisch süddeutsche Barockkirche ist. Die architektonisch klare und doch raffinierte Konstruktion ist sehr reizvoll, der Hochaltar edel und imposant - aber alles ein wenig staatstragend und kein bisschen barock überbordend, verspielt, dynamisch bewegt oder rauschhaft, wie unsere bayrischen Barockkirchen. Auf diesem Gebiet bin ich - wie Sie sehen - eine unbelehrbare Lokalpatriotin!

Ingrid Leitner