In der letzten Ausgabe hatten wir Ihnen den Fall des auf der Wies’n im Fundbüro abgegebenen Rollstuhls geschildert und Sie aufgefordert, sich Gedanken zu machen, warum ein Rollstuhl dort gelandet sein mag. Sieglinde Anene hatte ihrer Fantasie bereits freien Lauf gelassen und Sie womöglich beflügelt, denn noch zwei weitere Geschichten haben ihren Weg zu uns gefunden. Bei unserem Herbstfest haben wir die Autorinnen – soweit anwesend - für ihren Erfindungsgeist mit einer bayerischen Brotzeit der besonderen Art bereits geehrt. Ihnen wünschen wir an dieser Stelle viel Vergnügen beim Lesen.

 

 

Der ausgeliehene Rollstuhl

Der Ferdl und der Paule wollen auf'd Wiesn. Weil man dort jedoch vor den Zelten Ewigkeiten in der Warteschlange stehen muss, beschließen sie, sich kurzerhand im Hausflur vom Alfons den Rollstuhl auszuleihen. Denn der hatte einen Motorradunfall und kann deshalb vorerst sowieso nicht aus dem Haus. 

Als der Ferdl den Paule im Rolli über die Wiesn schiebt, werden sie gleich beim ersten Zelt vom Ordner, an den vielen Wartenden vorbei, hereingewunken. Schließlich, das sollen ruhig alle sehen, hat man auf dem Oktoberfest ein Herz für Behinderte. 

 

Bevor sich die beiden ins Getümmel stürzen, wird dem Alfons sein Rollstuhl beim Notausgang des Zelts geparkt.

Der Ferdl und der Paule tanzen, Bruderschaft trinkend, mit den Madln einer Schweizer Abiturientenklasse auf dem Tisch, und gleich gesellen sich noch ein Jacques aus Paris und vier Australier, die ja bekanntlich sehr trinkfest sind, dazu. 

Während man zusammen eine Riesengaudi hat, ist der  Rollstuhl im Zelt unterwegs. Wiesnbesucher setzen sich hinein, drehen feixend damit eine Runde, und wenn sie genug davon haben, lassen sie ihn irgendwo wieder stehen.

Die blonde Susi darf, weil sie heute Geburtstag hat, im Dirndl auf der Bühne die Blaskapelle dirigieren, und als die gerade den Entenmarsch spielt, landet der Rollstuhl schließlich neben der von einer Krankenversicherung reservierten Box. 

„Man kommt doch her, um Spaß zu haben“, sagt einer der Versicherungs-Herren zum Kellner und bittet um Entfernung des Gefährts. 

Der Kellner lässt ihn wissen, dass er mit den vollen Maßkrügen weiß Gott schon alle Hände voll zu tun habe. 

Ein Ordner bringt den Rollstuhl schließlich zum Wies‘n-Fundbüro, wo ihn selbst am Ende des Oktoberfests noch immer keiner vermisst.

 

Sonja Beutura

 

 

Das Wunder vom Oktoberfest

Friedrich war auf der Wies‘n. Endlich!

Der Hendlgeruch und die gebrannten Mandeln, der Steckerlfischduft - was für ein heimeliges Gefühl! 10 Jahre, seit seinem Unfall, war er nicht mehr da gewesen. Aber heuer, heuer hatte ihn plötzlich eine solche Lust überkommen – da dachte er, jetzt, jetzt müsse er es wieder einmal probieren. Und nun war er da. Die Fahrgeschäfte blinkten und glitzerten, klingelten und orgelten. Einer haute den Lukas und die Ochsenbraterei roch verführerisch. Früher war er jedes Jahr draußen gewesen, draußen auf der Wies‘n. Mutig schob Friedrich sich nun durch die Menge. Die war schon so zahlreich, dass die Leute immer wieder an seinen Rollstuhl rumpelten. Da die meisten guter Laune und einige auch schon angetrunken waren, fiel das nicht weiter auf. „Hoppla“ sagte einer. Und Friedrich nahm es nicht übel, denn er rollte bereits zielstrebig auf ein Zelt zu. Es war das vom Löwenbräu. Er hatte gelesen, dass Rollstuhlfahrer es leicht hatten, wenn sie in ein Bierzelt wollten, auch wenn dieses schon übervoll war. Und tatsächlich, schon war er drin. Der Ordner gab ihm noch einen derb-freundschaftliche Schlag auf die Schulter, und wünschte ihm jovial „A guade Wies‘n!“ Da rutschte Friedrich in die Versenkung am Eingang und blieb mit einem Rad kurz hängen.

Aber gleich wurde er von der Menge  vorwärts geschoben. Während die Kapelle „Du gehörst zu mir“ spielte, rollte er einem kräftigen Burschen über die Zehen. Der fluchte, doch da hatte Friedrich schon einen Platz mitten am langen Tisch ergattert. Die Kellnerin stellte den Maßkrug vor ihn. Er hob ihn zum Mund. „Ein Bett im Kornfeld“ spielte die Kapelle und Friedrich wurde feierlich zu Mute. Schüchtern prostete er einer fülligen jungen Frau gegenüber zu. Sie sah verächtlich auf seinen Rollstuhl und wandte sich lächelnd ihrem ebenfalls korpulenten Begleiter zu. „Hiatamadl“ spielte die Kapelle und am Tisch grölten sie begeistert mit. Friedrich war angezündet, aber mitsingen traute er sich noch nicht. Da stieg die Korpulente mit tatkräftiger Unterstützung ihres Begleiters auf den Tisch und schwenkte zum Vergnügen aller ihre runden Hüften, angefeuert vom „Anton aus Tirol“.

Da auch auf vielen anderen Tischen bereits getanzt wurde, steigerten sich Stimmung und Lautstärke rasch. Auf Friedrichs Tisch kletterte noch ein Mädchen, diesmal eine ganz Dünne. Ihr Dirndl war kurz und die rundum Sitzenden schauten ihr interessiert unter den Rock. „Life is life“ spielte die Kapelle. Friedrich hatte seine erste Maß geleert. Da stand die zweite schon da. Seine Nachbarn hatten sich inzwischen wohl an seinen Rollstuhl gewöhnt und prosteten ihm jetzt ausgiebig zu. Er prostete zurück. Am Tisch wurde es noch enger, da sich zwei schmächtige Italiener dazwischen gedrängt hatten. Aber es ging. „I glab i mog di“, spielte die Kapelle. Alle sangen mit, Friedrich auch. Nur italienisch klang‘s ein bisserl komisch. Dafür sangen die beiden Italiener noch etwas lauter. Sie kämen aus Verona: „La donna è mobile!“, brüllten sie. „Aha“, sagte der Bayer neben ihnen verständnislos.

Da stieg die dritte Dame auf den Tisch. Das Gejohle steigerte sich noch einmal. Jetzt kletterte auch ein junger Kerl aus Niederbayern hinauf. Und danach noch einer. Da Letzterer schon so besoffen war, dass er die Tischplatte nicht mehr selbstständig erklimmen konnte, waren die anderen aufgesprungen, um Hilfe zu leisten. Der eine schob an seinen Arschbacken, der andere nahm seinen Fuß und riss ihn hoch, was ihn fast zum Absturz gebracht hätte, so dass sich die hilfreichen Männer rechts und links von Friedrichs Rollstuhl zu einer Pyramide aufgipfelten, um den Besoffenen endgültig auf den Tisch zu stemmen. „Jetzt schdeh hoid amoi auf!“, schrie einer von ihnen Friedrich ins Gesicht. Und weil‘s eh scho wurscht war und alle helfen wollten, zerrten sie auch gleich Friedrich aus dem Rollstuhl in die Höhe. Der kam zum Stehen und da die geballte Männerkraft um ihn und das Gekreische der Madl so gewaltig waren, stand Friedrich tatsächlich plötzlich am Tisch, stützte sich schwer mit den Armen auf – aber er stand – er stand alleine und ohne Hilfe am Tisch.

 

Vor überraschter Begeisterung für seine neue Fähigkeit, für seine geradezu wunderbare Heilung, öffnete er den Mund zu einem staunend blöden Grinsen. Einer der Helfer schüttete ihm einen Riesenschluck aus dem Maßkrug in den Hals und als Friedrich sich mühsam vor dem Ersticken bewahrt hatte, hustete er, schnaufte und gurgelte: „A Wunder, i kon schdeh“. “Er ko schdeh, sogda“, erklärte sein Nachbarn den beiden Italienern die wundersame Heilung des Lahmen. „Ein Prosit, ein Prosit der Gemütlichkeit!“, spielte die Kapelle. Und Friedrich stand. Stand immer noch, zäh und tapfer. Und die dralle Person, die zuerst auf den Tisch geklettert war, hielt erstaunt inne und murmelte: „A Wunda, wia in Lourdes!“ „S'Wunda bist schon Du, Madl!“ antwortete ihr ebenfalls fülliger Begleiter und griff ihr gefühlvoll zwischen die Beine. Sie kreischte. Friedrich aber stand. Er stand unverrückbar. Das Bierzelt, das inzwischen zur lustigen Hölle geworden war, hatte sich in seinen Kopf verlagert. Aber Friedrich stand - beinahe aufrecht und anhaltend. Die Stimmung kochte. Friedrichs Gehirn kochte ebenfalls. Sein Nachbar goss ihm die nächste Ladung in den selig geöffneten Mund. Friedrich schluckte und schluckte - aber er stand. Er stand und um seinen Kopf bildete sich eine leuchtende Gloriole. Dann schwanden ihm die Sinne. Langsam fiel er in sich zusammen und rutschte neben dem Rollstuhl auf den Boden. Da lag er. Die Sanitäter waren rasch zur Stelle und trugen ihn unter den stolzen Klängen des bayrischen Defiliermarsches aus dem Zelt.

Als die Reinigungsmannschaft weit nach Mitternacht anrückte, fand sie auch den Rollstuhl. „Geh, bringan ins Fundbüro“, brummte der Gruppenleiter missmutig: „Welcha Depp verliertn sein Roischdui, oiso Leid gibt’s!“

Inga Schwab