Wir waren spät dran diesmal. Der große Saal der Philharmonie im Gasteig füllte sich rasch. Wir zeigten unsere Karten vor. Die Platzanweiserin in Blau nickte freundlich. Sie erkannte uns wohl trotz der langen Sommerpause. Aber – an meinem Platz und am Platz daneben standen bereits zwei Frauen im Rollstuhl. Wie unangenehm.

Offenbar wussten sie nicht, wie die Rollstuhlstell-Plätze vergeben waren, denn sie waren zwar auf den Eintrittskarten, nicht aber an Ort und Stelle mit Nummern versehen. Vor vielen Jahren hatte ich gerade diesen „meinen“ Platz bewusst gewählt, da ich seitlich hinter dem Dirigenten das ganze Orchester sehen kann. Außerdem befindet sich hinter mir der erhöhte Sitzplatz, auf dem diejenige Person sitzt, die mich begleitet. Das ist meistens meine Freundin Monika, die diese Konzerte genau so genießt wie ich. Zögernd stellte ich mich also nun in die Reihe hinter die beiden „Konkurrentinnen“. Keine gute Lösung, auch deshalb, da meine Begleitung mir auf dem angestammten Platz ohne Umstände helfen kann, wenn ich irgendetwas brauche. Monika sprach inzwischen mit der Platzanweiserin. Ja, wir hätten recht, die erstplazierte Dame müsse mir den Platz überlassen, aber sie, die Platzanweiserin könne ihr das nicht sagen, denn das sei Diskriminierung. Blöde Kuh, dachte ich kurz und beratschlagte mich mit Monika. Darauf sprach Monika die Frau im Rollstuhl an. Das sei der für mich ausgewiesene Platz. Sie möge doch bitte auf den ihr zugewiesenen wechseln. Die Frau, eine Mitfünfzigerin, war – so dachte ich mir - der Typ „brave, ordentliche Rollstuhlfahrerin“, also wohl gutwillig. Aber ich hatte nicht mit ihrem Ehemann gerechnet, der dicht an ihrem Rollstuhl lehnte, den Oberkörper leicht über sie gewölbt, Gefahren und Zumutungen aller Art abweisend. Nein, sie würden nicht weggehen, sagte er mit leicht grollendem Unterton. Die andere Frau, die neben der seinen, die könne ja ihren Platz räumen. Wir berieten uns wieder kurz und verschoben alles Weitere auf die Pause. Beim ersten Klingelzeichen, das den zweiten Teil des Programms ankündigte, fuhr ich los. Ich wollte diesmal die erste auf meinem Platz sein und damit weitere Unannehmlichkeiten vermeiden. Umsonst. Die zweite Rollstuhlfahrerin war weg. Die gegnerische Gruppe aber, bestehend aus rollstuhlfahrender Frau und schützendem Ehemann stand auf meinem Platz; ein Denkmal stillen, aber kampfbereiten Widerstands. Ich fuhr dicht an die Frau heran und bat sie, mir nun doch meinen Platz zu überlassen. Ihr kleines blasses Gesicht schnurrte feindlich zusammen. Sie schwieg. „Wieso denn“, blaffte dafür ihr Ehemann. Da begann sie ihm etwas zuzuflüstern. Ich verstand nicht, was sie sagte, aber sie schien dringend um sein Nachgeben zu bitten. „Weil dies mein Platz ist, erwiderte ich. - Und wo steht das? - Sie können sich ja bei der Platzanweiserin erkundigen, bot ich ihm an. - Wir sind schon seit 10 Jahren hier“, versuchte er mit der Dauer seiner Konzertbegeisterung seinen Standpunkt zu erhärten. Jetzt erinnerte ich mich, ja, die Frau stand wohl immer auf der anderen Seite, die ebenfalls für Rollstuhlfahrer reserviert war. Offenbar waren sie jetzt aber entschlossen, nein, war wohl er entschlossen, meinen Platz zu erobern. Sie murmelte wieder zu ihm hoch. „Ich versteh dich nicht“, herrschte er sie an, ohne sich ihrem flüsternden Mund auch nur ein wenig zuzuneigen. Sie flüsterte und zischte erregter. „Und wennetwas mit dir ist?“ Sie flüsterte noch heftiger, flehentlich geradezu. „Und wenn du nach vorne fällst“? Ach so, dachte ich, er hat Sorge um sie, dann verstehe ich ja, dass er ausgerechnet meinen Platz will. Aber da ich – wie gesagt - ebenfalls auf Hilfe angewiesen bin, wollte ich nicht nachgeben, obwohl mir die Frau inzwischen leid tat. Der mit erregten Tönen und Zischlauten weitergeführte Ehekampf hatte sich noch einmal gesteigert. Da riss er plötzlich ihren Rollstuhl nach vorne und rangierte ihn so weit von meinem Platz weg, dass eine Lücke für mich blieb, die allerdings viel zu eng war. Laut sagte er: „Da soll sie schauen, wie sie reinkommt!“ Die Frau flüsterte jetzt voller Verzweiflung zu ihm hinauf. Da griff er noch einmal wütend nach der Armlehne ihres Rollstuhls und riss ihn einfach noch einige Zentimeter zur Seite. Die Reifen quietschten auf dem Holzboden. Die Lücke war etwas breiter geworden. Bei dem gewalttätigen Manöver war seine Frau etwas ins Schwanken geraten und in sich zusammengesunken. Er schaute mich höhnisch an: Da würde ich ja wohl kaum hineinkommen. Doch sein Racheakt schlug fehl, denn ich rangierte zwar langsam, aber mühelos auf meinen Platz. Da er die Lücke jedoch immer noch sehr klein gehalten hatte, stand seine Ehefrau nun Armlehne an Armlehme neben mir, der erkorenen Feindin. Ich schaute ihr kurz in die Augen – ein verängstigtes, kleines, zur weißen Grimasse erstarrtes Gesicht. Und wieder flüsterte sie flehentlich zu ihm hoch. Da riss er den Rollstuhl herum und schob sie auf die andere Seite, auf den Platz, den sie wohl jahrelang innegehabt hatte. Direkt vor ihr in der Stuhlreihe war noch ein Sitzplatz frei. Sein Platz offenbar. An diesem Platz aber ging er rasch vorüber und ließ sich ganz am Ende der Reihe, viele Meter weit weg von ihr, in einen Sitz plumpsen. Vier Wochen später. Wieder waren Monika und ich nach langer Parkplatzsuche spät dran. Wir stürmten in den Saal. Wer stand diesmal auf meinem Platz? Else, eine liebe Freundin! Sie prunkte in ihrem mächtigen Elektrorollstuhl und lächelte wie die Königin-Mutter. Hinter ihr in der Sitzreihe Michaela, ebenfalls eine liebe Bekannte und Freundin! Hocherfreut begrüßten wir die beiden. Monika erzählte rasch die kriegerische Geschichte vom letzten Mal. Dann begann das Konzert. In der Pause redeten und lachten wir gemeinsam. Dann überließ Else mir meinen Platz. Ingrid Leitner