Manche erinnern sich vielleicht noch an das „Literarische Quartett“ und an die Sendung im Jahr 2000, nach der Sigrid Löffler ausstieg. Sie hatte ein Buch mit einer drastisch geschilderten Liebesszene verrissen: „Das ist keine Literatur, das ist bestenfalls literarisches Fastfood."

Marcel Reich-Ranicki hatte gekontert: „Sie halten die Liebe wohl an sich für etwas Unanständiges, aber die Weltliteratur beschäftigt sich nun mal mit diesem Thema.“ Es war zum Eklat gekommen. Das Buch „Gefährliche Geliebte“ von Haruki Murakami war allerdings nur äußerer Anlass gewesen, sicher nicht Ursache für den Ausstieg der Literaturkritikerin, die Reich-Ranicki hier zu Unrecht als prüde Studienrätin hinstellen wollte. Dieses Buch ist nun in neuer Übersetzung und mit einem neuen, nicht reißerischen, sondern lyrischen Titel wiederaufgelegt worden – und ich persönlich finde es literarisch anspruchsvoll und gut erzählt. (Die ursprüngliche Fassung war vom Japanischen ins Amerikanische und von dort aus ins Deutsche übersetzt worden, was immer problematisch ist.) Die Story Der Ich-Erzähler Hajime wächst in Tokio auf. Der Junge, ein Einzelkind, findet eine Seelenverwandte in dem Mädchen Shimamoto. Mit ihm, als Einzelkind wie er in der Außenseiter-Ecke, verbinden ihn gemeinsame Interessen und bald eine scheue, kindliche Liebe. Für ein erotisches Verhältnis sind die beiden noch zu jung, auch trennen sich ihre Lebenswege bald. Mit seiner ersten Freundin Izumi hat Hajime später keuschen Sex, in einer Art sexuellem Rausch aber verfällt er ihrer Cousine. Izumi wirft seine Untreue aus der Bahn, nie wieder erholt sie sich von der Enttäuschung. Jahrzehnte später sieht Hajime sie als versteinerten Fahrgast auf der Rückbank eines Taxis sitzen – und entwickelt endlich starke Schuldgefühle. Nach dem Ende der Beziehung zu Izumi heiratet er und wird Vater. Er führt als wohlhabender Besitzer zweier Jazzbars ein unbeschwertes Leben. Doch nie hat er seine Kindheitsliebe Shimamoto vergessen. Eines Tages taucht sie als atemberaubende Schönheit in seinem Club auf. Immer wieder kommt sie unerwartet in den Club und geht nach einer Weile. Man erfährt: Auch Shimamoto hat Hajime nie vergessen. Die frühe, kindliche Zuneigung der beiden hat sich zu einer Amour fou, einer „verrückten Liebe“, entwickelt. Eines Nachts geben sie sich einander hin. Aber am Morgen ist die rätselhafte, schweigsame Geliebte verschwunden. Hajime dämmert nun, dass sie schon einmal in seiner Gegenwart sterben – und ihn auf der Fahrt zur gemeinsamen Liebesnacht mit sich in den Tod reißen wollte. Der Roman ist die Geschichte einer Kindheits- und Erwachsenenliebe, die sich zur zerstörerischen Liebe auswächst. Gleichzeitig ist es die Lebensbeichte eines Menschen, der einen anderen (Izumi) so tief verletzt, „dass er sich nie mehr davon erholte“.

Haruki Murakami: Südlich der Grenze, westlich der Sonne. Roman.

Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Dumont Verlag, Köln 2013. 223 Seiten, 16,99 Euro. In fast allen Münchner Stadtbibliotheken ausleihbar.

Christiane Hauck