Gesetzesauslese – auf Abwegen

Mit den beiden nachfolgenden Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGH) werden zwar keine Gesetze besprochen – wie üblicherweise in dieser Kolumne; oftmals kann aber der Gesetzgeber mit dem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt gar nicht schnell genug Schritt halten, so dass Gerichte darüber befinden müssen, wo – in Ermangelung einschlägiger Gesetze – die Grenze zwischen rechtlich Zulässigem, ethisch Vertretbarem und technisch Machbarem im Einzelfall zu ziehen ist.

Deren Entscheidungen haben daher häufig gesetzesfortbildenden bzw. –ergänzenden Charakter. Dafür sind die folgenden beiden Fälle beispielhaft, die – nicht ohne Grund – für lebhafte Diskussionen in Politik und Medien, bei einschlägigen Verbänden und Institutionen gesorgt haben. Wenn sich die hier zu lesenden Ausführungen auf die Darstellung der Entscheidungen beschränken, ohne sie zu kommentieren, so ist dies eine bewusste Entscheidung, da eine sachgerechte Diskussion zunächst die Kenntnis des Diskussionsgegenstands erfordert.

Der Patientenwille ist entscheidungserheblich - die Grundsatzentscheidung des BGH zum Abbruch lebenserhaltender Behandlung

Gerade im Strafrecht muss sich der BGH in seinen Entscheidungen oft mit erschütternden Sachverhalten auseinandersetzen. So auch hier bei einer 1931 geborenen Frau, die seit Oktober 2002 nach einem Hirnschlag in einem Pflegeheim im Wachkoma lag und über einen Zugang in der Bauchdecke künstlich ernährt wurde (sog. PEG-Sonde). Entgegen einem 2007 zwischen Heimleitung und den zwischenzeitlich zu Betreuern der Mutter bestellten beiden Kindern getroffenen Kompromiss, wonach – in Übereinstimmung mit einem im September 2002 geäußerten Wunsch der Mutter – sich die Heimleitung lediglich um die Pflege im engeren Sinn kümmern und die Geschwister die Ernährung über die Sonde einstellen und die Mutter beim dann einsetzenden Sterbeprozess begleiten würden, auch durch eine erforderliche Palliativbehandlung, wies die Geschäftsleitung des Unternehmens die Heimleitung an, die bereits unterbrochene künstliche Ernährung wieder aufzunehmen.

Daraufhin suchte die Tochter der Patientin einen auf Medizinrecht spezialisierten Rechtsanwalt auf und erhielt den Rat, den Schlauch der Sonde unmittelbar über der Bauchdecke zu durchtrennen. So geschah es. Die Patientin wurde danach zwar ins Krankenhaus eingeliefert und mittels neu gelegter Sonde wieder künstlich ernährt. Sie starb jedoch dann zwei Wochen später eines natürlichen Todes. Gegen Tochter und Anwalt wurde aufgrund des geschilderten Sachverhalts des Durchtrennens der Sonde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, das mit einer Verurteilung des Anwalts wegen (gemeinschaftlich begangenen) versuchten Totschlags zu neun Monaten auf Bewährung endete (die Tochter wurde aus hier nicht interessierenden Gründen freigesprochen). Dieses Urteil des Landgerichts Fulda wurde auf Revision des verurteilten Anwalts hin jetzt durch eine Grundsatzentscheidung des BGH aufgehoben, die den Anwalt freisprach (Urteil vom 25.06.2010, Aktenzeichen: 2 StR 454/09).

Nach Auffassung des BGH hatte der von der Patientin im September 2002 geäußerte Wille, eine weitere künstliche Ernährung zu unterlassen, bindenden Charakter, so dass der 2007 erzielte Kompromiss rechtmäßig und die anschließend abredewidrig angekündigte Wiedereinleitung der künstlichen Ernährung einen rechtswidrigen Angriff auf das Selbstbestimmungsrecht der Patientin darstellte. Vor diesem Hintergrund war aber der Behandlungsabbruch gerechtfertigt. An dieser Entscheidung sind zwei Aspekte bemerkenswert: zum einen zieht der BGH bei der Beurteilung eines Sachverhalts, der vor Inkrafttreten des so genannten Patientenverfügungsgesetzes abgeschlossen war, dieselben Prinzipien heran, die jetzt in eben diesem Gesetz verankert sind (vgl. unsere Besprechung in der letztjährigen Dezember-Ausgabe zu diesem Gesetz). Es ist daher davon auszugehen, dass die darin enthaltenen Prinzipien auch bei älteren Sachverhalten herangezogen werden können – und womöglich darüber hinaus. Zum anderen gibt der BGH die grundlegende Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen in diesem Fall auf, wenn er allein darauf abstellt, ob eine Verhaltensweise dem krankheitsbedingten Sterbenlassen mit Einwilligung des Betroffenen seinen Lauf lässt, wie hier durch das Abtrennen der Sonde.

Wolfgang Vogl

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