In einer fernen Zeit, als man noch einfach so verreisen konnte, was man hoffentlich bald wieder kann, sind viele von uns nach Berlin gefahren. Fast alle Berlinreisenden haben im hippen Berlin Mitte die aufwendig renovierten Hackeschen Höfe besucht. Nur wenige werden bemerkt haben, dass dort ein kleines feines Museum existiert. Es ist im ersten Obergeschoss in der Rosenthalerstr. 39 in den Originalräumen der ehemaligen Blindenwerkstatt von Otto Weidt untergebracht.

Leider für Rollstuhlfahrer nicht zugänglich, allerdings mit Braille-Beschriftungen und Erläuterungen. Es überrascht nicht, dass hier Bürsten und Besen gebunden wurden, ist dies doch bis in heutige Zeiten eine übliche Beschäftigung für blinde Werktätige. Aber diese kleine Fabrikationsstätte war eine ganz besondere. Otto Weidt, der Inhaber, hatte aufgrund einer fortschreitenden Erblindung sein ursprüngliches Handwerk, das Tapezieren, aufgeben müssen und nun diesen Betrieb gegründet. Er beschäftigte vor allem jüdische blinde Arbeiter und Arbeiterinnen.
 
Mit Kriegsbeginn gelang es ihm, seinen Betrieb als kriegswichtig einstufen zu lassen. Damit konnte er seine Beschäftigten lange Zeit vor der Zwangsarbeit bewahren, was sehr bedeutsam war, weil sie so dem direkten Zugriff der Gestapo entzogen waren. Schließlich wurden viele jüdische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter direkt vom Arbeitsplatz deportiert. Mit einer Kombination aus legalen Geschäften, Schiebereien, Gefälligkeiten und Passfälschungen gelang es ihm dies hinauszuzögern und auch seine Arbeiter zu verpflegen, denn die Lebensmittelkarten für Juden, waren nur zum Dahinvegetieren geeignet. Aber auch die Blindenwerkstatt war nur vorübergehend eine Rettungsinsel. Nachdem die Gestapo am Ende doch zuschlug, gelang es „Papa Weidt“, wie ihn seine Beschäftigten liebevoll nannten, sie wieder aus dem Gestapolager herauszubekommen.

Er ahnt aber schon, dass der Zeitpunkt der Deportation nicht mehr lange auf sich warten lassen wird, deshalb beginnt er vorsorglich mit der Beschaffung von Verstecken bei Freunden und Bekannten, auch in der Werkstatt selber wird ein Versteck eingerichtet.
 
Bei Beginn der Deportationen sind fast alle untergetaucht. Allerdings durch einen Moment der Unaufmerksamkeit, ausgelaugt nach einer 9-monatigen Zeit im Versteck, werden alle Verstecke durch „Greifer“ verraten. „Greifer“ waren im Auftrag der Gestapo darauf spezialisiert, untergetauchte Juden aufzuspüren.
Die meisten Verhafteten kommen in Konzentrationslager. Auch dort versucht Otto Weidt ihnen, so gut es geht, beiseite zu stehen, indem er ihnen unzählige Lebensmittelpakete schickt, oft unter fingierten Absendern, damit er nicht auffällt.
 
Otto Weidt war ein sehr herzlicher und fürsorglicher Mensch, aber er hatte auch so seine menschlichen Schwächen, zwar verheiratet, hatte er unter den Mitarbeiterinnen eine Freundin, Alice Licht, die auf dem Transport nach Auschwitz aus dem Eisenbahnwagon eine Postkarte mit Otto Weidts Adresse warf. Auf der Karte stand, wer immer diese Karte findet, bitte in den Briefkasten stecken, Porto zahlt Empfänger. Unverzüglich reiste er ihr nach, mietete ein Zimmer in der Nähe und schaffte es schließlich, sie dort in Sicherheit zu bringen.

Weitere drei seiner Beschäftigten haben das KZ überlebt, einige in Verstecken. Eine davon ist Inge Deutschkron, sie ging später nach England und wurde dort Journalistin. Sie hat sich im Alter zur Aufgabe gemacht als Zeitzeugin von der Judenverfolgung in Berlin und von Otto Weidt zu berichten. Warum hat es so lange gedauert bis wir davon erfahren haben? Seine Geschichte strafte alle diejenigen Lügen, die behaupteten, man habe ja nichts gegen die Nazis machen und den Juden nicht helfen können, wo sogar ein einfacher Werkstattbesitzer und noch dazu blinder Mann es konnte. Gerade nach dem Krieg war das nicht gewollt. Auch in der DDR, die Werkstatt lag ja im alten Ostberlin, gab es kein Interesse daran, denn dort war nur der kommunistische Widerstand von Interesse.

Carola Walla