Wer Ingrid Leitner kannte, Mitbegründerin des cbf München und langjähriges Vorstandsmitglied, erinnert sich an eine eindrucksvolle, schöne, selbstbewusste Frau (sie war gewissermaßen die Grande Dame des cbf München). Unter dem Titel „Das Leben der Sternentaucherin“ ist nun ein Buch von ihr erschienen, in dem sie ihren Weg schildert, – sie erkrankte als Jugendliche an Polio, musste mit der eisernen Lunge beatmet werden und blieb schwer behindert, auf den Rollstuhl und auf ständige Hilfe angewiesen – ihren Weg vom gelähmten Mädchen ohne Aussichten und Perspektive zur lernbegierigen jungen erfolgreichen Frau, die das Abitur schaffte, studierte, ihren Doktor machte, in ihrem Beruf als Redakteurin beim Bayrischen Rundfunk Erfüllung fand und ihre Fähigkeiten und Intelligenz dazu einsetzte, Menschen mit Worten zu gewinnen, erfreuen und belehren. Ein Buch voll Schmerz und Wut, Aufbegehren und Kampf, Anstrengung und Erfolg, aufrichtig, berührend, nie weinerlich. Die Autorin schildert darin das Leben als behindertes Mädchen, das sich und ihren Körper hasst und die Welt und ihren Umgang mit ihr. Wie sie sich von der erdrückenden Liebe der Mutter befreien muss, wie sie mit Missachtung, Verachtung und auch Selbstverachtung fertig werden muss, wie sie mit den teilweise bizarren Menschen umgeht, die bei ihr als Helfer arbeiten wollen. Und ihre Träume und Wünsche und Vorstellungen, manchmal in poetischen kurzen Gedankensplittern.

Wer Dr. Leitner kannte, mag sich vielleicht wundern über die große Verzweiflung und diesen elementaren Hass auf die Krankheit und die Welt. Sie war doch immer so gelassen und souverän. Naja, nicht immer, sie wurde es erst. Zumal der Club Behinderter und ihrer Freunde in dem Buch gar nicht vorkommt, es ist eine reine Darstellung der persönlichen Entwicklung. Mich hat sehr die Auseinandersetzung mit den Eltern und auch das Verständnis für sie beeindruckt, die Autorin hat den Standpunkt der persönlichen Gekränktheit durch die Krankheit hinter sich gelassen. Wie sehr ihr das Lernen und die Sprache und andere Menschen dabei geholfen haben, die zu werden, die sie wurde, erfahren wir in diesem poetisch-autobiografischen Roman.

Sie schreibt nicht „ich“, sie schreibt „das Mädchen“ oder „die junge Frau“, was darauf hinweist, dass es zwar Ingrid Leitners Schicksal ist, um das es geht, aber auch das Schicksal jedes behinderten Menschen sein kann, auch wenn er nicht die gleichen Talente hat und die gleiche Förderung erfährt. Wir erfahren, was möglich ist, wenn der Wille stark ist, und also, was auch anderen möglich sein kann. Die Sprachgewalt der Autorin lässt uns ihre Verlassenheit und Hilflosigkeit erfahren, aber ebenso ihren Aufbruch, nachdem sie beschlossen hat, sich nicht dem Schicksal, das ihr bestimmt schien, zu unterwerfen.

Um es mit ihren eigenen Worten zu sagen: „Sie wusste nicht, wie ihr Leben verlaufen wäre ohne Rollstuhl. Weniger schmerzensreich und weniger freudenvoll sicherlich, von weniger Entsetzen und Angst und Hass geschüttelt, keine offene Wunde, in der etwas brodelt und kocht. Eine Wunde, die erst spät sich schließt und tiefe Narben hinterlässt, die schließlich doch verblassen und sich in zarte Lebensspuren verwandeln. Ein sogenanntes normales Leben wäre nicht von solcher Erbarmungslosigkeit, Unbedingtheit und beißender Lust gepeitscht gewesen, nicht von scharfer Intensität ins Riesenhafte getrieben. Es wäre wohl in den bewusstlosen Niederungen des stumpfen Dahinlebens verronnen.“ (Seite 224)

Ingrid Leitner, „Das Leben der Sternentaucherin“, Frankfurt am Main 2019, 249 Seiten, 19,90 €.