Nach Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention haben Menschen unabhängig von ihrer Behinderung das Recht, ihren Aufenthaltsort selbst zu wählen, zu entscheiden, mit wem sie zusammenleben und von welchen Diensten sie Unterstützung erhalten möchten. In der Realität fehlt allerdings bezahlbarer Wohnraum, mangels Anbietern sind individuelle Unterstützungsleistungen stark eingeschränkt und geeignete Informationen über die Möglichkeit, mittels eines sogenannten „Persönlichen Budgets“, selbst über Geld zu verfügen, mit dem ich meine Hilfestellung bedarfsgerecht decken kann, stehen nicht zur Verfügung. Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander.  

Dass der Anspruch dennoch eingelöst werden kann, zeigt das Beispiel von Hans Biehler und Katharina Teufel-Biehler, zweier Menschen mit Lernschwierigkeiten in Penzberg. Sie organisieren seit über acht Jahren ihr Leben in der eigenen Wohnung. In einem Interview lassen sie uns an ihren Erfahrungen teilnehmen.

Peter Pabst (PP): Könntet ihr euch unseren Lesern kurz vorstellen?

Katharina Teufel-Biehler (KTB): Mein Name ist Katharina Teufel-Biehler, ich bin 29 Jahre alt und arbeite in einer Bäckerei in Bad Heilbrunn.

Hans Biehler (HB): Ich heiße Hans Biehler, bin 55 Jahre alt, arbeite in der Wäscherei der Werkstatt für Menschen mit Behinderung in Gaißach und bin der Ehemann von Katharina.


PP: Hans, kannst du mir sagen, wie sich das ambulant begleitete Wohnen von deiner früheren Wohnsituation unterscheidet?

HB: Ich habe vorher in einem Wohnheim für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung in Peiting gewohnt. Ich hatte da ein eigenes Zimmer mit Terrasse. Es gab auch Gemeinschaftsräume und eine Küche, die uns versorgte. Wir hatten dort Betreuer und festgelegte Gruppenregeln. Jeden Dienstag mussten die Zimmer sauber gemacht werden. Wenn wir außer Haus gingen, mussten wir uns immer abmelden

KTB: Ich hatte ein eigenes Zimmer bei meinen Eltern. Sie haben mir auch gesagt, wann ich was zu tun habe. Jetzt können wir selbst bestimmen, wann aufgeräumt wird, oder was wir unternehmen möchten.

PP: Gibt es denn auch Dinge, die früher besser waren, die Ihr heute vermisst?  

HB: Es gab im Wohnheim die Gemeinschaft. Man traf sich zu den Essenszeiten und hat auch oft etwas miteinander unternommen. Wenn man wollte, hat man sein Zimmer verlassen und es war immer jemand da.

PP: Ihr habt euch ja dazu entschlossen, die Unterstützung über das Persönliche Budget beim Bezirk Oberbayern zu beantragen. War dieser Weg schwierig?  

HB: Am Anfang wusste ich darüber nicht Bescheid und es war schon kompliziert. Ich habe dann in der Offenen Behindertenarbeit Informationen und Hilfe erhalten. Das Wohnheim hat darüber nicht aufgeklärt. Zu Anfang wollte ich ja auch gar nicht wechseln.

KTB: Ich fand es auch kompliziert. Am Anfang hatten wir Konferenzen im Bezirk und später über das Telefon. Wir wurden gefragt, wofür wir Unterstützung benötigen und wie viele Stunden wir Assistenz brauchen. Die Offene Behindertenarbeit hat uns Helfer vorgestellt und wir konnten auswählen, von wem wir uns unterstützen lassen wollten.  

PP: Was war denn der Auslöser für den Wunsch, in der eigenen Wohnung zu leben?

HB: Ganz einfach! Ich habe bei einer Freizeit die Katharina kennen gelernt und mich verliebt. Sie wohnte in Benediktbeuern, ich in Peiting. Da haben wir uns immer am Wochenende besucht. Später wollten wir gerne zusammenziehen. Du, Peter, kanntest mich und meine Eltern ja sehr gut. Du hast auch die Gespräche mit unseren Eltern geführt.

KTB: Ich wollte immer schon in eine Wohngemeinschaft ziehen. Meine Eltern haben das auch unterstützt. Als ich Hans kennenlernte, wollten wir zusammen eine Wohnung nehmen.

PP: Wäre das Zusammenwohnen auch im Wohnheim möglich gewesen?

HB: Damals wäre das nicht möglich gewesen. Die Frauen hatten ihre Zimmer im ersten Stock und wir im Erdgeschoss. Um keine Kinder zu bekommen, wurde mir auch empfohlen, dass, wenn man befreundet war, es besser sei, sich sterilisieren zu lassen.

PP: Habt ihr denn das Gefühl, dass die Hilfe, die ihr über das Persönliche Budget bekommt, ausreicht, um einen eigenen Haushalt zu führen?

KTB: Für mich hat die Unterstützung ausgereicht.

HB: Ich hatte das Gefühl, dass die Unterstützung anfangs zu wenig war. Bei der Freizeitgestaltung am Wochenende hätte ich mir zum Beispiel ein wenig mehr Hilfe gewünscht, da ich im Heim immer Angebote und Mitbewohner um mich hatte. Jetzt bekommen wir ausreichend Hilfe.

PP: Da, wo ihr zuvor gewohnt habt, hattet ihr sicherlich viele Freunde und Kontakte. Wie war das, als ihr nach Penzberg gezogen seid?

KTB: Anfangs fehlte mir das, aber mit den Assistenten haben wir überlegt, wo wir teilnehmen können. Es gab ja auch die Kontaktgruppe Spaßvögel, in der ich Mitglied war. Wir haben auch Volkshochschulkurse (FEH-Harfe, Aquarellmalen) besucht. Heute sind auch die Wochenenden meist mit Programm fest geplant.

HB: Bei mir hat es eine Zeit gedauert, bis ich in der Kontaktgruppe integriert war. Ich habe mich dann auch in der REHA Sportgruppe engagiert (Sitzfußball).

PP: Wer hat euch denn überhaupt bei welchen Tätigkeiten unterstützt?

KTB: Am Anfang waren es die Mitarbeiter der Offenen Behindertenarbeit, die wir gut kannten. Danach wurden uns Assistenten vorgestellt, die uns begleitet haben. Unterstützung bekamen wir bei Behördenkontakten, Briefverkehr, der Organisation im Haushalt und der privaten Freizeitgestaltung. Für Einkaufen, Kochen und Putzen haben wir eine eigene Kraft bekommen.

PP: Übernehmen die Assistenten diese Hilfen ganz allein oder zeigen sie euch auch, wie ihr Dinge ohne fremde Hilfe erledigen könnt?

KTB: Beim Aufräumen und Putzen helfen wir mit. Einiges übernehmen wir jetzt auch selbst. Vieles haben wir von der Haushaltshilfe gelernt. Beim Bezirk haben wir auch schon Stunden reduziert. Vielleicht können wir später einmal ganz auf die Haushaltshilfe verzichten.

HB: Auf die pädagogische Unterstützung können wir aber nicht verzichten. Manchmal unterstützen uns auch noch die Eltern oder Freunde, z. B. die Trauzeugen beim Umzug.  

PP: Habt ihr im Haus auch zu den Nachbarn Kontakt oder habt ihr das Gefühl, auf Ablehnung zu stoßen?

KTB: Ja, zu einem Paar haben wir regelmäßig Kontakt. Von denen bekommen wir oft einmal einen Kuchen. Zu anderen haben wir keinen regelmäßigen Kontakt. Aber wir werden nicht abgelehnt.  

HB: Das Gegenteil ist der Fall. Man mag uns im Haus und wir sind sogar bei Festen, an Silvester und zum Grillen eingeladen gewesen.

PP: Habt ihr einen gesetzlichen Betreuer?  

HB: Nein. Und das wollen wir auch nicht. Wir wollen unsere Entscheidungen selbst treffen können.  

PP: Hattet ihr anfangs Kurse oder Trainings, die euch auf die Selbstständigkeit vorbereitet haben?

HB: Am Anfang hatten wir über die Volkshochschule Kurse zum Selbstständigleben. Da haben wir Kochen gelernt, den Haushalt organisieren, Einkaufen und mit Geld umgehen und auch, wie wir mobil sein können mit den Bussen und Bahnen. Außerdem haben wir, bevor wir zusammengezogen sind, fünf Wochen in einer Ferienwohnung das Zusammenleben geprobt. Ob wir auch gut miteinander auskommen. Die Kosten haben unsere Eltern übernommen.  

PP: Haben dich, Hans, die Leute vom Wohnheim in dieser Zeit unterstützt und wie denken sie heute darüber?  

HB: Das Wohnheim hat nicht geglaubt, dass ich diesen Weg schaffe. Sie dachten, ich komme wieder zurück. Heute sind Sie ziemlich „baff“ darüber. Der Kontakt ist jedoch abgerissen. Andere aus dem Wohnheim wollten auch so wohnen, sie haben sich aber nicht getraut und hatten auch niemanden, der sie dabei unterstützte.

PP: Jetzt ist ja das Wohnen über das Persönliche Budget mit einigem Aufwand und ständigem Organisieren und Absprechen von Hilfen verbunden. Wäre es euch nicht lieber, ihr hättet einen Anbieter, der das alles für euch übernimmt und selbst mit dem Bezirk abrechnet?

HB:  Nein. Vieles wäre dann wieder wie im Heim. Wir hätten nicht mehr die Möglichkeit, alles selbst zu entscheiden. Ob uns der Helfer passt und wann er für uns da ist. Auch unter Umständen mal am Wochenende oder am Feiertag oder später am Abend.

PP: Es war ja richtig schwer, mit euch einen Termin zu finden. Was macht ihr denn sonst noch so in Eurer Freizeit?

HB: Ich gehe mit dem Bund Naturschutz ehrenamtlich Vögel beobachten. Ich spiele auch beim Fußballverein Iffeldorf, bei den BOCCA SENIORS mit. Im Behindertenbeirat Weilheim-Schongau bin ich im Vorstand und kümmere mich um das Thema „leicht verständliche Sprache“. Außerdem leiten wir eine Selbsthilfegruppe von Menschen mit Lernschwierigkeiten, die heißt Mosaik Penzberg.

KTB: Ja, in der Selbsthilfegruppe bin ich auch Schriftführerin und ich organisiere die Einladungen. Dabei bekommen wir von der Assistentin, wenn nötig, auch Unterstützung.

PP: Viele Aktivitäten sind ja nicht am Ort. Wie kommt ihr denn zu euren Veranstaltungen?

HB: Dafür bekommen wir vom Bezirk Oberbayern Geld, die sogenannte Mobilitätshilfe. Da können wir dann auch einmal abends ein Taxi nehmen, weil Busse dann ja nicht mehr fahren.

PP: Glaubt ihr, dass sich diese Wohnform auch für andere Menschen mit Lernschwierigkeiten eignet?

HB: Das muss jeder selbst entscheiden. Wir haben ja auch ganz viel lernen müssen zu Anfang. Es hängt auch davon ab, wie viel Hilfe der Einzelne vom Bezirk finanziert bekommt. Aber ich glaube, dass es schon viele schaffen könnten, wenn sie unterstützt werden und sie sich trauen.  

PP:  Würdet ihr, wenn jemand wissen wollte, wie ihr das geschafft habt, auch Tipps geben?  

HB: Ja, sehr gerne. Es gibt ein Konzept, das heißt: Betroffene beraten Betroffene. Das könnten wir schon anbieten.

PP: Dann bedanke ich mich ganz herzlich bei euch für dieses interessante Gespräch!

Peter Pabst