"Ich hatte immer viel Glück gehabt!"

Sibylle sitzt mir gegenüber. Auf dem Tisch steht ein Strauß Tulpen. Vor dem Fenster trübes, nasses Wetter. Sie hat sich viel Zeit genommen für dieses Gespräch, obwohl sie
dringend eine wissenschaftliche Arbeit beenden muss.
„Wobei hast Du denn Glück gehabt?“, frage ich sie. – „Eigentlich immer wieder. Immer wieder bin ich an den richtigen Menschen, die richtige Institution, die richtige Gemeinschaft geraten“, sagt sie nachdenklich und beweist damit wieder einmal, wie wenig sie ihre Begabungen und Verdienste herausstreichen mag. Dabei ist und war sie stets eine akribisch arbeitende Germanistin, ein aufrichtiger Mitmensch, eine verständnisvolle, treue Freundin und ein arbeitsames Clubmitglied – Letzteres schon seit 1975!
„Das mit der Germanistik war gar nicht mein angestrebtes Berufsziel. Denn eigentlich wollte ich Schauspielerin werden!“, erklärt sie mir. Kein Wunder bei einem Vater, der mit den Kindern gern Sprachspiele spielte, Unsinn erfand und ironisch-selbstironisch auf die Welt schaute. Obwohl er einem Beruf nachging, bei dem es wenig zu lachen gibt – er war Wirtschaftsprüfer. Das in manchen Kreisen übliche Getue um die Adelsherkunft verspottete er gelegentlich mit dem Satz „ Wegen allzu alten Adels des Lesens und Schreibens unkundig!“ Dabei gibt es immerhin Dokumente, die die Existenz der Steinsdorffs bereits für das 15. Jahrhundert nachweisen. „Wobei es die mit dem einen f und die mit den zwei f am Schluss gibt. Die mit den zwei f findet man eher in Preußen, die anderen mehr in Bayern. Und mit allen sind wir irgendwie verwandt.“ Einer von Sibylles Vorfahren war sogar Erster Bürgermeister von München. Nach ihm ist die Steinsdorf-Straße im Lehel benannt. Immerhin, nicht jeder Münchner Bürgermeister bekommt eine Straße! Von diesem Vater also hat Sibylle den klugen Witz, den Sinn für Clownerien und Situationskomik.


Mutter Steinsdorff, von Beruf Grundschullehrerin, hatte andere familientaugliche Gaben mit in die Ehe gebracht. Sie schaffte es, aus jeder Situation etwas zu machen, Gemütlichkeit herbeizuzaubern an Orten, die ärmlich und abweisend waren. Damit verscheuchte sie rasch trübe Stimmungen, Ängste und Schrecken. Denn die Zeiten waren nicht immer rosig für die Familie. Gleichwohl hielt die Mutter Familientraditionen aufrecht, die sie früh schon eingeführt hatte: Sobald etwa eines der Kinder das erste Schneeglöckchen nach Hause brachte, buk sie eine Schneeglöckchen-Torte, und schon war die winterliche Kälte nur noch halb so schlimm!
Geboren wurde Sibylle von Steinsdorff in Berlin – das einzige Mädchen neben drei Brüdern. Ein Freund der Familie sagte dazu einmal: „Von den vier Steinsdorff-Kindern ist das Mädchen der einzige Junge“, was nichts über Sibylles Rauflust aussagt, aber viel über ihre Lust, Grenzen zu umgehen, Rituale und Konventionen nicht so ernst zu nehmen. Während die Brüder eher brav waren.
1943, als Berlin immer stärker bombardiert wurde und man die Zivilbevölkerung zu evakuieren begann, verließen auch die Steinsdorffs die Stadt. Sie kamen bei Verwandten auf einem Schloss in Sachsen unter. Für die achtjährige Sibylle ein Abenteuer, für die Mutter eine höchst unangenehme Zeit, da sie von Verwandten abhängig war. Ihr fehlte der eigene Haushalt.
1946 kehrte die Familie nach Berlin zurück. Als der Vater 1950 nach München versetzt wurde, zog die Familie mit. Sie bauten sich in Gräfelfing ein Haus. Vier Jahre nach dessen Fertigstellung starb der Vater, die Familie musste mehr denn je zusammenhalten, was den Steinsdorff-Kindern gut gelang, obwohl sie immer schon große Individualisten waren.
1952 machte Sibylle Abitur. Während ihrer Schulzeit hatte sie an einer Schülerzeitung mitgearbeitet, denn sie konnte schon damals elegant formulieren. Eine Zeitung übrigens, die gelegentlich unliebsames Aufsehen erregte. Einmal hatte sich die Redaktion über religiöse Heuchelei lustig gemacht und dazu zwei Bilder von identischen tropfenden Wasserhähnen abgedruckt. Unter dem einen stand: „Kaltes heiliges Wasser“, unter dem anderen: „Warmes heiliges Wasser“. Den letzten Ärger wegen frecher Einfälle in der Schülerzeitung erlebte Sibylle noch kurz nach der Abschlussprüfung. Die Redaktion gab zwei verschiedene Ausgaben der Abiturzeitung heraus und verkaufte diese zu unterschiedlichen Preisen. Die eine enthielt eine Zeichnung des Herrn Direktors in Kleidern. Sie kostete 3 Mark. In der anderen war er nackt zu sehen. Für die musste man 5 Mark bezahlen. „Und rate mal, welche mehr gekauft wurde“, sagt Sibylle und grinst vergnügt.
Zunächst also wollte Sibylle Schauspielerin werden. Bald bezweifelte sie aber, dass es für eine große Karriere reichen würde. Da entschied sie sich fürs Germanistikstudium. Während des Studiums spielte sie allerdings immer mal wieder in einer Theatergruppe mit. Dort befreundete sie sich auch mit dem kürzlich verstorbenen bayerischen Schauspieler, Autor und Regisseur Wolf Euba. In dieser Zeit erkrankte Sibylle an Tuberkulose. Sie wurde einige Monate in einem Sanatorium in Partenkirchen behandelt, und als sie wieder nach Hause durfte, war Wolf Euba der Einzige, der sie regelmäßig besuchte. Er verließ die Theatergruppe allerdings bald, denn er beschäftigte sich sehr intensiv mit der Schauspielerei und hatte rasch Erfolg, auch bei den Anfängen des bayerischen Schulfernsehens.
Bei Sibylle schloss sich eine akademische Karriere fast nahtlos ans Studium an. Während ihrer Jahre als Universitätsdozentin hat sie viele wissenschaftliche Projekte angestoßen oder begleitet, darunter die historisch-kritische Ausgabe der Briefe von und an Joseph von Eichendorff sowie eine Bettine-von-Arnim- und eine Adalbert-Stifter-Ausgabe. „Wenn’s mit der Wissenschaft nichts geworden wäre, hätte ich auch ein Reisebüro aufmachen können“, sagt sie. Denn um sich das Studium bis zur Erlangung des Doktortitels zu finanzieren – die Familie konnte sie nicht unterstützen –, arbeitete sie in verschiedensten Bereichen. Sie gab Nachhilfeunterricht, jobbte in diversen Firmenbüros, brachte Ausländern Deutsch bei und führte ausländische Touristen durch München. In ihre Kurse „Deutsch für Ausländer“ kamen auch arabische Jungmänner, die es empörend fanden, von einer Frau unterrichtet und dabei auch noch korrigiert zu werden. Sibylles Mutter hatte sogar Angst, dass man ihre Tochter bei der Gelegenheit erstechen würde. Sibylle hat alles heil überstanden und viel dazugelernt. Denn die Enge eines stur auf den Abschluss ausgerichteten Studiums war nie ihr Ding.
Bei den Führungen vor allem amerikanischer Touristen durch München traf sie sich gelegentlich mit einem anderen Clubmitglied: Susanne Grill. Die beiden erklärten oft gemeinsam das Rathaus, die Bavaria und die „Hummelfiguren“ (in bayerischem Englisch: Hammlfiggers), die damals sehr berühmt und als Souvenirs beliebt waren. Im Hofbräuhaus gab’s danach oft ein kostenloses Essen.
Ich habe Sibylle während meines Studiums kennengelernt und zwar über meine Mutter: Nach dem Abitur hatte ich an der Münchner Uni zu studieren begonnen. Damals gab es noch keine Zivis als Schul- oder Berufsbegleiter. Deshalb übernahm dies meine Mutter. Sie fuhr mich mit ihrem roten VW-Käfer zur Universität, brachte mich von einem Seminar, einem Hörsaal zum anderen, sorgte für Brotzeit und Klogänge in den Vorlesungspausen und kutschierte mich danach wieder nach Hause. Wenn ich bei den Germanisten an einem Seminar teilnahm, saß sie vor dem Eingang des Seminarraums und strickte. Sibylle sah sie da sitzen, und irgendwann kamen die beiden miteinander ins Gespräch. Als wir uns dann ein wenig besser kannten, brachte ich Sibylle ein paar russische Wörter bei – ich hatte Russistik neben Germanistik als zweites Fach –, damit sie sich auf einer Russlandreise ein wenig verständigen konnte. Das hat geklappt und seither haben wir uns nie mehr aus den Augen verloren.
1975, ein Jahr nachdem ich mit ein paar Freunden den CBF München gegründet hatte, kam Sibylle von Steinsdorff in unseren Club, und wir starteten unser erstes großes Projekt, „Anfänge einer behindertengerechten Stadt“. Sie beteiligte sich wie viel andere – auch Architekten und Städteplaner waren damals dabei – an den Verhandlungen und Planungen. Schließlich war es geschafft. Die Bordsteine in der näheren Umgebung der Stiftung Pfennigparade waren abgesenkt, Eingänge zu einer Bank, einem Lebensmittelladen, einer Arztpraxis, einer Apotheke, zum Polizeirevier 5, der katholischen Akademie und des Olympiaturms waren entweder mit einer Rampe oder einer Klingelanlage ausgestattet worden. Und weiter ging es mit anderen Projekten.
Sibylle von Steinsdorff und ihre Freundin, die Medizinerin Dr. Ruth Kern, die übrigens gerade ihre Autobiographie verfasst hat, in der sie auch ihre engagierte Mitarbeit im CBF beschreibt, hatten sich mittlerweile gemeinsam ein Haus gekauft. Ein bequemes Haus mit großem, gepflegtem Garten, das sie bis zu ihrer Übersiedlung ins Stift am Parksee, Unterhaching, bewohnten. In dieser Zeit kam dann auch Ruth Kern zu uns in den Club. Später tagte der CBF-Vorstand oftmals bei den beiden, weil es dort auch Platz für größere Versammlungen gab.
Viele Freunde meinten übrigens, Ruth hätte Sibylle mit in den CBF gebracht. Weil sie die Praktischere, Zupackendere von beiden ist. Doch um dies noch einmal richtigzustellen – Sibylle war längst Mitglied, bevor Ruth bei uns auftauchte!
Lange Jahre saß Sibylle auch im Vorstand. Sie war eine Mitstreiterin, mit der man vorzüglich zusammenarbeiten konnte. Klug, nachdenklich, sachlich. Lange hat sie sich um unsere Finanzen gekümmert – mit Genauigkeit und Sachverstand. Beides hat sie inzwischen aufgegeben.
„Was hat Dich dazu gebracht, so ausdauernd im CBF mitzumachen?“, frage ich sie. „Die Arbeit im CBF war eine schöne Ergänzung zu meiner Arbeit an der Universität. Es war eine praktische Tätigkeit, bei der man sich etwas einfallen lassen musste, wenn man erfolgreich sein wollte. Und wir waren sehr erfolgreich! Da war rasch ein erfreuliches Ergebnis zu sehen. Ein Beispiel dafür ist unsere große Parkplatz-Aktion. An jenem Tag haben wir zusammen mit Münchner Zeitungen verschiedene Behindertenparkplätze in München angefahren und konnten aufzeigen, wie oft sie von Nichtbehinderten verparkt werden und wie wenig häufig und wie langsam unsere Polizei die nichtberechtigten Autos abschleppte.“
Auch wenn es im CBF um Kultur ging, war Sibylle dabei. Sie hatte neben Germanistik Kunstgeschichte studiert und lud die CBF-Mitglieder immer wieder einmal zu Kirchenführungen ein, vorzugsweise in der Umgebung von München.
Und eine letzte private Frage, liebe Sibylle: „Du kommst ja aus einer Familie mit vier Kindern. Warum hast Du eigentlich nicht geheiratet und ebenfalls viele Kinder bekommen?“ – „Dazu kann ich Dir eine kleine Geschichte erzählen“, sagt Sibylle und lacht. „Als ich, um für mein Studium Geld zu verdienen, im Büro einer großen Bank Ablage gemacht habe, hatte ich eine Kollegin, die mich gefragt hat, woher das ‚von‛ in meinem Namen komme: „Vom Vater oder von der Mutter?“ Ich erklärte ihr, wie sich das mit dem Namen verhält. „Ja“, sagte sie daraufhin nachdenklich, „wenn S’ jetzad heiratn dadn, dann wär ja des ‚von‛ weg!“ Und um das zu vermeiden, habe ich der Kollegin versprochen, nicht zu heiraten!“
Mit dem CBF war sie glücklicherweise dann doch recht lange verheiratet, besser gesagt „verbandelt“, und dafür sei sie hochgelobt, die Sibylle von Steinsdorff, und herzlich bedankt!


Und zuletzt.....
Ich hatte das Glück, zwei Tage vor Sibylles Tod sie noch einmal mit meiner Freundin Monika besuchen zu können. Ihr Bruder Hanfried und seine Frau Sule brachten uns in ihr Zimmer und blieben bei uns. Sibylle lag in ihrem Bett und atmete ruhig. Vor dem Fenster eine Amsel in den hellen Zweigen. Ein friedlicher Ort.
Als Monika zu singen begann – ein zärtlich leises Lied - öffnete Sibylle die Augen ein wenig. So saßen wir eine lange Weile zusammen. Die Melodie schwebte im Raum.
Dann kam der Abschied. An der Tür drehten wir uns noch einmal um: Sibylle gab einen kleinen Laut von sich.
„Wenn ein Mensch, den man sehr lieb hat, stirbt, dann endet damit auch ein Teil des eigenen Lebens“, sagte mir eine gemeinsame Freundin.


Ingrid Leitner