Die Aufarbeitung ist immer noch nicht abgeschlossen

Anlässlich ihres 50.Geburtstages führte die Lebenshilfe München im Dezember 2010 eine Veranstaltung zum Gedenken an die Opfer der Euthanasie im Dritten Reich durch. Hauptredner war Dr. Michael von Cranach, von 1980 bis 2006 ärztlicher Leiter des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren, der sich große Verdienste um die Aufarbeitung der Euthanasie in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren und in ganz Bayern erworben hat.

Diese Aufarbeitung ist beklemmenderweise siebzig Jahre danach immer noch nicht überall erfolgt. So wurde z.B. im Franziskuswerk Schönbrunn im Landkreis Dachau dieser Prozess zwar angestoßen, ist aber immer noch nicht abgeschlossen. Die Dinge, die dabei zu Tage befördert werden, sind erschütternd und niederschmetternd und zeigen, dass die behinderten Menschen nirgendwo verlässliche Hilfe und Unterstützung erhielten. Zwar hat der Münsteraner Bischof Graf Galen von der Kanzel die Tötung behinderter Menschen gegeißelt – und das war damals eine wichtige und mutige Tat – und hat die Verbrechen an die Öffentlichkeit gezerrt, die die NS- Machthaber und ihre Erfüllungsgehilfen so scheuten. Auch waren die konfessionellen Pflegeanstalten nicht die Speerspitze der Euthanasie, aber die Kooperation bei der Euthanasie haben weder die katholischen noch die evangelischen Einrichtungen verweigert. Später wurde oft behauptet, die Leitungen dieser Anstalten hätten keine Ahnung gehabt, was mit den Menschen, die abtransportiert wurden, geschehen sollte. Das ist längst widerlegt.

Die Euthanasie, in deren Rahmen letztendlich auf dem Gebiet des Deutschen Reiches 200.000 Menschen mit psychischen, geistigen, neurologischen, sinnes- und auch körperlichen Behinderungen ermordet wurden, verlief in mehreren Etappen. Den Auftakt machte 1933 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in dessen Rahmen bis Mai 1945 mindestens 400.000 Menschen zwangssterilisiert wurden. Nach diesem Gesetz sollten Menschen mit der Diagnose angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, zirkuläres Irresein, erbliche Fallsucht, erblicher Veitstanz, erbliche Blindheit, erbliche Taubheit, schwere erbliche körperliche Missbildung sowie schwerer Alkoholismus sterilisiert werden. Dieses Gesetz, das bereits in der Endphase der Weimarer Republik vorbereitet wurde, konnte sich auf Zustimmung selbst innerhalb der Reformpsychiatrie stützen. In den Anstalten erfolgten die meisten Zwangssterilisationen zwischen 1934 und 35, ab 1939 gingen sie drastisch zurück. Gleichzeitig stieg bereits seit 1936 die Zahl der Todesfälle in den Anstalten, als Folge der erneuten Herabsetzung der Pflegesätze um 30 Pfennige auf 2,70 Mark, nachdem sie in der Weltwirtschaftskrise bereits um 70-90 Pfennige gekürzt worden waren. Für Minderwertige, die die Volksgemeinschaft schädigen, sollte kein Geld zur Verfügung gestellt werden. In einem Mathematikbuch für höhere Schulen 1936 wird folgende Aufgabe gestellt: “Ein Geisteskranker verursacht 4 RM. Nach vorsichtigen Rechnungen sind in Deutschland 300.000 Geisteskranke, Epileptiker usw. in Anstaltspflege. Wie viele Ehestandsdarlehen zu je 1.000 RM können von diesem Geld jährlich ausgegeben werden?“ (Jürgen Schreiber, Ein Maler aus Deutschland, G. Richter, das Drama einer Familie).

So wurde man schon von klein auf indoktriniert.
Mit dem Überfall auf Polen 1939 setzte eine systematische Vernichtung ein, die sogenannte Aktion T4 (genannt nach Tiergartenstr. 4, der Berliner Zentrale der Aktion).Hierzu wurden vier Tarnorganisationen geschaffen, die Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten, die die zur Tötung vorgesehenen Kranken und Behinderten auswählte, die Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft, die die Vernichtungstransporte in den berüchtigten „grauen Bussen“ durchführte, außerdem noch die Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege und die Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten, die die Aktion verwaltungsmäßig abwickelten. „Bis zum August 1941 wurden 70.253 Menschen in Tötungsanstalten vergast. Am 24. August 1941 stoppte Hitler die Vernichtungsaktion T4. Die Hintergründe dieses Schrittes sind vielfältig. Zum einen entsprach die Zahl der getöteten Psychiatriepatienten den im Sommer festgelegten Planzahlen. Außerdem hatten die Tötungsaktionen innerhalb der Bevölkerung eine wachsende Unruhe hervorgerufen. Angehörige von Getöteten verständigten sich untereinander, beschwerten sich bei den Direktoren der Anstalten, fragten bei der Vernichtungszentrale nach dem Schicksal ihrer getöteten Väter, Mütter und Kinder nach. Bei einigen Abtransporten entwickelten sich Formen öffentlichen Protestes. Und auch die Kirchen begannen nach monatelangem Schweigen, ihre Stimme gegen die Vernichtungsmaßnahmen zu erheben (so Hans-Ludwig Siemen, Psychiatrie im Nationalsozialismus, R. Oldenburg-Verl. 1999).

Trotz Einstellung der Aktion T4 arbeiteten die Tötungsanstalten Bernburg und Sonnenstein weiter. Im Rahmen der “Aktion Brandt“ und der sogenannten „Wilden Euthanasie“ wurden Patienten mit der sogenannten Hungerkost und durch Todesspritzen ermordet. Die Hungerkost war eine besonders qualvolle Art des Sterbens speziell für die Anstaltsbewohner, die nicht zur Arbeit eingesetzt werden konnten. Sie wurden buchstäblich dem Verhungern preisgegeben. Kinder wurden bevorzugt mit Spritzen ermordet. Die Euthanasie war der Endpunkt eines langen Ausgrenzungsprozesses. In diesem System gab es unzählige Beteiligte und Mitwisser. Viele, die sich schuldig gemacht hatten, und noch mehr die, die nichts dagegen unternommen hatten. Wir sind den Opfern zumindest schuldig, dass die Verbrechen, die an Ihnen begangen wurden, aufgedeckt werden und ihrer Leiden gedacht wird. In der Hoffnung, dass so etwas nie wieder geschehen möge!

Carola Walla