In den 70er Jahres des 20. Jahrhunderts, also vor ca. 40 Jahren, gab es einen Schlüsselbegriff, der hieß INTEGRATION. Er war ganz neu und frisch und wichtig für uns. In dieser Zeit entstand – neben vielen anderen Bürgerinitiativen – auch unser Club. Und wir benutzten das Wort sehr gerne, denn wir Behinderten wollten anerkannt sein, aufgenommen werden in die Gesellschaft und nicht ausgegliedert. Dabei war uns besonders wichtig, dass man uns – die Rollstuhlfahrer und Gehbehinderten, die Sprachbehinderten und die Blinden, die psychisch und geistig Behinderten – als ebenso normal betrachtete, wie wir uns selber sahen: „Ich sitze im Rollstuhl – na und?“, sagten wir, denn wir konnten außer dem Rollstuhl keinen Unterschied feststellen. Wir waren Menschen mit Gefühlen, Gedanken, Talenten, Wünschen, Stärken und Schwächen, so wie alle anderen – mit nur einer einzigen Besonderheit, der Behinderung eben. Und trotz dieser Besonderheit wollten wir stets und überall teilhaben. Das gelang uns – bis zu einem gewissen Grad, wie man heute sieht: Behinderte Menschen fahren U-Bahn, weil die in manchen Städten barrierefrei ausgebaut worden ist, sie üben verschiedenste Arten von Berufen aus, sie gehen ins Kino, falls dieses zugänglich ist, man sieht sie auf allen Straßen und Plätzen und sie bereisen gelegentlich die ganze Welt. Ist sie also gelungen, die INTEGRATION, die Eingliederung in diese unsere Gesellschaft, ohne Vorbehalte und Hindernisse?

Integration in den Schulen Wenn man die Schulen anschaut, kann man nur sagen „Nein, die Integration ist nicht gelungen, keineswegs!“ Denn was sich da abspielt – vorwiegend auch in Bayern – ist ausgesprochen traurig und ein Musterbeispiel für Integrationsverhinderung. Gerade im Schulbereich hat man von Beginn der integrationsbeflissenen Jahre an geradezu das Gegenteil entwickelt und zementiert – die Sonderpädagogik. Unter dem Vorwand, dass behinderte Kinder eine ganz und gar besondere Betreuung benötigten, hat man regelrechte Burgen für Sonderpädagogik errichtet, hat die Kinder sorgfältig gesiebt und ausgesondert, um ihnen dann eine sonderpädagogische Sonderbehandlung in diesen Sonderschulen zuteil werden zu lassen.

Wie war das früher gewesen? Das war früher besser gelöst, da gar nicht geregelt, aber menschenfreundlich praktiziert. Ich kann mich noch gut an meine Schulzeit erinnern. Da gab es in meiner Klasse mehrere Jahre lang ein Mädchen, das man heute lernbehindert nennen würde. Das wurde von der Klassenlehrerin mit viel Mühe, aber mit Erfolg angeleitet, mitgetragen, manchmal auch mitgeschleift und sanft in die nächste Klasse hinüberbugsiert. Auf diese Weise erhielt das Kind 10 Jahre lang immerhin ein Minimum an Schulbildung, ohne dass wir anderen Kinder, die wir uns leichter taten mit dem Lernen, gelitten hätten, oder zu kurz gekommen wären. Im Gegenteil – wir wurden ab und zu streng dazu aufgefordert, unsere Mitschülerin nicht mehr zu hänseln, weil sie wieder mal was nicht verstanden hatte. „Was soll das“, schimpfte die Lehrerin, „dann helft ihr einfach ein bisschen öfter bei den Hausaufgaben!“ Ebenso ging das mit einem gehbehinderten Mädchen, das ein Jahr bei uns in der Klasse lernte. Diesem Kind erklärte die Lehrerin mit besonderer Sorgfalt, was zu erklären war und wir wurden dazu angehalten, ihr weiterzuhelfen.

Erst mit der Integration begann die Aussonderung Heute will man diesem fatalen Umstand abhelfen. Deshalb vor allem wurde der Begriff INKLUSION eingeführt. Denn inklusive Pädagogik ist so etwas wie eine Weiterentwicklung der integrativen Pädagogik. Das heißt, man geht nicht mehr von der Vorstellung aus, dass es eine Mehrheit vollwertiger Menschen gibt und solche, die behindert, also mit Mängeln behaftet und deshalb minderwertig sind. Man sagt vielmehr, alle Menschen sind generell unterschiedlich. Ihre Verschiedenartigkeit ist ihre Besonderheit und kein Mangel. Aber alle Menschen sind – eben weil sie Menschen sind – gleich wichtig und wertvoll.

Menschenrechte Somit beruft sich der Begriff der Inklusion auf die Menschenrechte und fordert, dass die Schule den Bedürfnissen ihrer Schülergesamtheit gewachsen sein soll, eine Schule für alle, in der kein Kind ausgesondert wird, weil es den Anforderungen der Schule nicht entsprechen kann. Es soll also kein Kind überfordert, aber auch keines unterfordert werden. Alle sollten nach ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen gefördert werden. Ist INKLUSION auch alltagstauglich? Fraglich ist allerdings, ob der Begriff der INKLUSION für die Alltagssprache taugt. Kann man ihn wie die INTEGRATION als Aufforderung zur Anteilnahme, Einbeziehung und Anerkennung verwenden? Ich denke nicht. Dazu ist er zu abstrakt, zu fachbezogen pädagogisch. Es genügt wohl, dass man weiß, was er bedeutet. Sprechen sollte man vielleicht mehr von den im Grundgesetz verankerten Menschenrechten, die jedem, gleichgültig welchen Geschlechts, welcher Religion, welcher Rasse, welcher sexuellen Orientierung und welcher Behinderung gleiche Rechte garantieren.

Ingrid Leitner