Die europäische Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen 2010 -2020

Es ist noch gar nicht so lange her, da standen behinderte Menschen ganz am Rande der Gesellschaft und waren eher Bittsteller, denen von der Gesellschaft mitunter Wohltaten gespendet wurden, für die sie sich dann aber auch erkenntlich zu zeigen hatten.

Diese Zeiten sind – glücklicherweise – endgültig vorbei. Zwar wäre es übertrieben, die heutige Situation von Menschen mit Behinderungen als paradiesisch darzustellen, die besser gar nicht sein könnte, doch allein ein Blick auf nationale und internationale Rechtsvorschriften aus den letzten beiden Jahrzehnten zeigt, in welchem Ausmaß die Belange behinderter Menschen in den Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit gelangt sind. Ob das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot (Art.3, Absatz 3, Satz 2 Grundgesetz, eingeführt 1994) oder das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006 auf nationaler Ebene, die Europäische Grundrechtscharta von 2009 oder Verordnungen für Reisen behinderter Menschen im Flug- oder Bahnverkehr von 2006 bzw.2007 auf europäischer oder schließlich die UN-Konvention für Menschen mit Behinderungen aus dem Jahr 2006, eines kommt in all dem zum Ausdruck: behinderte Menschen sind nicht länger Objekt staatlicher Entscheidungen, sondern zunehmend gleichberechtigtes Subjekt in einer auf Teilhabe angelegten Gesellschaft.

Vergegenwärtigt man sich, beispielsweise, die Zahlen auf europäischer Ebene, ist unschwer zu erkennen, warum dies so ist. In der Europäischen Union leben derzeit etwa 80 Millionen Menschen mit Behinderungen und mit zunehmenden Alter steigt zudem der Prozentsatz behinderter Menschen in der jeweiligen Altersgruppe deutlich an: so sind mehr als ein Drittel der über 75jährigen behindert, mehr als 20 % schwer behindert. Angesichts der in der EU zu erwartenden demographischen Entwicklung wird der Anteil behinderter Menschen an der Gesamtbevölkerung somit zweifellos steigen. Einen so bedeutenden Teil der Gesellschaft von einer vollständigen Teilhabe in allen Bereichen  auszuschließen ist nicht nur sachlich nicht zu rechtfertigen, sondern widerspricht auch den wirtschaftlichen Interessen der EU, wie derzeit  noch eine Armutsquote bei behinderten Menschen von 70 % über dem Durchschnitt belegt.

Vor diesem Hintergrund ist deshalb auch die von der Europäischen Kommission am 15. November 2010 veröffentlichte Europäische Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen zu sehen. Schwerpunkt dieser Strategie ist nämlich die Beseitigung von Barrieren, wobei im Einzelnen acht Aktionsbereiche festgelegt werden: Zugänglichkeit, Teilhabe, Gleichstellung, Beschäftigung, allgemeine und berufliche Bildung, sozialer Schutz, Gesundheit und Maßnahmen im Außenbereich. Bereits aus der Bezeichnung als Strategie kann entnommen werden, dass es sich hier nicht etwa um einen Rechtsakt handelt, dem konkrete Rechte und Pflichten für den betroffenen Personenkreis oder die einzelnen Mitgliedstaaten entnommen werden könnten.  Es handelt sich vielmehr um eine Art Tagesordnung, mit der die Kommission für den Zeitraum der nächsten zehn Jahre beschreibt, welche Ziele sie erreichen und welche Maßnahmen sie dazu ergreifen will. Im Bereich der Zugänglichkeit setzt die Kommission beispielsweise auf Rechtsvorschriften zur Beseitigung von Barrieren und prüft insbesondere, ob sie bis 2012 einen Rechtsakt über die Zugänglichkeit vorlegt (hier wäre an eine Verordnung zur Schaffung spezifischer Standards für einzelne Sektoren oder aber an die Mitgliedstaaten gerichtete Richtlinien zu denken). Im Bereich Gleichstellung werden Sensibilisierungskampagnen auf EU-Ebene zur Bekämpfung von Diskriminierungen geplant, im Bereich sozialer Schutz beabsichtigt die Kommission, im Rahmen der Europäischen Plattform zur Bekämpfung der Armut angemessene Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderungen zu fördern und im Bereich Gesundheit soll eine Förderung eines gleichberechtigten Zugangs zu Gesundheitsleistungen von Menschen mit Behinderungen erfolgen. Diese Liste ließe sich in sämtlichen Aktionsbereichen weiterführen und ergänzen.

Selbstverständlich ist es zum jetzigen Zeitpunkt noch zu früh, die Maßnahmen im Einzelnen zu bewerten. Doch auch wenn viele der beschriebenen Schritte auf den ersten Blick wenig konkret erscheinen, eines steht immerhin fest: die Belange behinderter Menschen haben definitiv ihren Platz auf der Agenda europäischer Politik gefunden. Inwieweit sich dies in  Rechtsakten europäischer Organe niederschlägt, wird aufmerksam zu verfolgen sein.

Wolfgang Vogl