Eine Erörterung des Problemkreises der Armut bei Behinderung muss naturgemäß bei der Rolle der Krankenkassen beginnen. Die Krankenkassenreformen der letzten Jahre haben nämlich in großem Ausmaß dazu beigetragen, dass die Armut behinderter Menschen immens zunimmt. Viele werden sich noch an Zeiten erinnern, als Sozialhilfeempfänger von den Zuzahlungen bei verordneten Arzneimitteln, Heilmitteln, Krankenhausaufent­halten etc. befreit waren. Tempi passati! Jetzt müssen sie, wenn sie behindert oder chronisch krank sind, Zuzahlungen in Höhe von mindestens 1 Prozent ihres Jahresbruttoeinkommens selber tragen.

Sehr viele Menschen mit Behinde­rung leben nun entweder von Grundsicherung, weil sie nie in der Lage waren, einen normalen Beruf auszuüben, oder von niedrigsten Erwerbsunfähigkeitsrenten, weil sie gar nicht bis zum Rentenalter durchhalten konnten. Das heißt konkret: Wer Grundsicherung erhält, muss dann von den 351 €, die ihm monatlich zur Verfügung stehen, im Monat 3,51 € selber tragen. In München beträgt die Grundsicherung 375 €, da muss man dann 3,75 € zahlen. Das hört sich vielleicht nicht nach einer übermäßigen Belastung an - schließlich muss ja jeder einen Beitrag leisten. Aber bei 351 € gestattet der verfügbare Geldbetrag noch nicht einmal eine aureichende Ernährung, wie wir von den ehrenamtlichen Mitarbeitern der Münchner Tafel (die meisten Leser werden diese Organisation kennen, die – wie in vielen anderen Städten Deutschlands auch – bedürftige Menschen mit gespendeten Lebensmitteln, etwa aus Supermärkten, versorgt) immer wieder zu hören bekommen. Und vor diesem Hintergrund ist auch ein Betrag von 3,51 oder 3,75 € sehr viel.

Leider ist das noch nicht alles: Medikamente, die nicht verordnet werden können, sind inzwischen von Erstattungen durch die Kassen vollständig ausgenommen. Dazu zählen z.B. Emulsionen zum Einreiben, die für viele körperbehinderte Menschen ganz wichtig sind, um Druckgeschwüre (Dekubitus) zu vermeiden. Aber auch eine Erstattung der ganzen Palette von in Frage kommenden Hausmitteln bei Erkältungskrankheiten wie Tees oder Halsdragees ist danach ausgeschlossen.

Die Patientensprecherin bei der Bayerischen MS Gesellschaft, Bettina vom Ende, hat mal zusammengestellt, was ein MS-Patient in der Regel braucht, damit sich sein Gesundheitszustand nicht noch zusätzlich verschlechtert oder er seinen Zustand überhaupt aushält, und ist dabei auf einen durchschnittlichen Betrag von 36 € pro Monat gekommen. Und das ist keinesfalls ein Betrag für Luxus-Aufwendungen: Denn in diesen 36 € sind u.a. Schmerzmittel wie z.B. Ibuprofen oder Aspirin enthalten, die die Folgeerscheinungen der bei MS-Kranken üblichen Interferonbehandlung (wie Fieber und Schmerzen), mildern oder Blaubeerextrakte gegen die häufigen Blasenentzündungen (auch eine übliche Begleiterscheinung bei MS) oder Vitamin B, dessen Einnahme Neurologen bei MS empfehlen.

Ein weiteres Problem stellt die Versorgung mit Hilfsmitteln durch die Krankenkassen dar. Die erfolgt nämlich inzwischen nur mehr nach dem Prinzip, wonach eine Grundversorgung ausreichend ist und stellt sich nicht mehr die Frage, ob dies den Betroffenen das Leben zusätzlich erschwert. Das früher geltende Prinzip, nach dem nämlich behinderte Menschen weitgehend einem nicht behinderten Menschen gleichgestellt werden sollen, wurde in den gesetzlichen Vorgaben zur Versorgung durch die Krankenkassen längst aufgegeben. Am Beispiel von Inkontinenzeinlagen kann man das gut verfolgen: Die Einlagen sind so schlecht, dass dies dauerndes Umziehen oder Frischbeziehen von Betten zur Folge hat. Das erfordert also in der Folge mehr Arbeitskraft, also Pflege, und auch mehr Kosten fürs Waschen. Das Fernsehmagazin Frontal 21 hat sich kürzlich dem eben erwähnten Beispiel der Inkontinenzeinlagen gewidmet und herausgefunden, dass einige Firmen speziell Einlagen für Krankenkassen fertigen, die sie in dieser schlechten Qualität nirgendwo sonst auf dem Markt anbieten! Zusätzlich belastet werden natürlich auch behinderte Menschen durch eine Reihe von Kostentragungspflichten: so haben die Kassen die Zuzahlung bei Brillen (welcher ältere Mensch benötigt keine Brille?) eingestellt und beim Zahnersatz kann man zwar, bei sehr geringem Einkommen, eine doppelte Zuzahlung erhalten, diese orientiert sich aber an Abrechnungssätzen, die in der Regel kein Zahnarzt mehr einzuhalten bereit ist, d.h. dass hier also auch noch Kosten entstehen. Es verwundert also nicht, wenn man zunehmend Menschen mit Zahnruinen antrifft. Als Konsequenz aus diesen Zuständen hat der Behindertenbeirat München in seiner Stellungnahme zum Armutsbericht der Landeshauptstadt München folgende Forderung an den Bundesgesetz­geber erhoben: Behinderungsbedingte Nachteile müssen durch ein Nachteilsausgleichsgesetz vermögens- und einkommensunabhängig ausgeglichen werden. Je nach Behinderungsart soll eine Pauschale für die Kosten von Medikamenten und Hilfsmitteln aufgenommen werden. Als erster Schritt müssen bei der Sozialhilfe Kosten wie eben für Medikamente wieder als Mehrbedarf übernommen werden, um ein weiteres Absinken behinderter Menschen ins Elend zu verhindern.

Carola Walla