Wenn Farben im Dunkeln zu leuchten beginnen

Die Dunkellesung von und mit Reiner Unglaub am 18.Oktober 2010


Wenn sich in etwa zwanzig Leute in den Kellerräumen des CBF in der Johann-Fichte-Straße 12 neben dicken, in regelmäßigen Abständen gurgelnden Abwasserrohren und zwischen allerlei Mobiliar versammeln, ist nicht etwa eine größere Entrümpelungs- oder Putzaktion des Vereins im Gange, nein, der CBF hat vielmehr zu seiner ersten Lesung gebeten. Dieser eher ungewöhnliche Ort wird zudem durch ebenso seltsame Maßnahmen flankiert: sämtliche Fenster wurden abgedunkelt, der Spalt an der Tür zum Treppenhaus mit Kissen überdeckt und selbst die roten Notfallleuchten an den Lichtschaltern sind überklebt. Ungewöhnlich ist nämlich auch die Lesung: der bekannte und vielen Lesern aus anderen Veranstaltungen oder von Hörbüchern bereits vertraute Reiner Unglaub konnte als Gast für eine Lesung im Dunkeln gewonnen werden. Herr Unglaub ist blind und vermag daher in absoluter Dunkelheit zu lesen – aus in Braille-Schrift geschriebenen Büchern. Für die Lesung im CBF hatte Herr Unglaub eine Liebesgeschichte mitgebracht, die einfühlsame Erzählung Dshamilja des kirgisischen Schriftstellers Tschingis Aitmatow.
Als das Licht nach einer kurzen und informativen Vorstellung des Gastes durch Frau Dr. Leitner dann ausgeschaltet wurde, war die plötzlich eingetretene komplette Dunkelheit für manch einen ungewohnt. Zu sehr ist man in der heutigen Zeit an das Vorhandensein irgendwelcher Lichtquellen gewöhnt, die zumindest ein Mindestmaß an Sicht und dadurch Orientierung ermöglichen – der Schein des Mondes, das Funkeln der Sterne oder auch nur die Zeitanzeige des digitalen Weckers. Doch schon nach wenigen Minuten lässt das Unbehagen über die absolute Finsternis nach und die ruhige und sonore Stimme Reiner Unglaubs zieht die Zuhörer in den Sog dieser in den kirgisischen Weiten spielenden Geschichte, lässt sie  atemlos mitverfolgen, wie sich zwischen Dshamilja und Danijar eine Liebesgeschichte anbahnt und was aus ihr wird. Und unversehens beginnen aus dem Dunkeln Bilder zu entstehen, die in das Leben einer kirgisischen Dorfgemeinschaft führen und uns mit den Farben des geernteten Weizens, der Blumen der Steppe oder der Augen Dshamiljas überraschen – Reiner Unglaub sei Dank, der uns im Dunkeln zu sehen gelehrt hat.
Wolfgang Vogl