"Sein Lebenskreis hat sich geschlossen".

Damals, vor 35 Jahren. Wir waren eine Freundesgruppe junger Menschen -im Rollstuhl, oder auch nicht. Einige hat­ten gerade ihr Studium begonnen oder ihre Berufstätigkeit. Andere wollten das unterstützen, was wir jungen Erwachse­nen planten. Was aber wollten wir? Mehr Bewegungsfreiheit, mehr Selbständigkeit, mehr Normalität für behinderte Men­schen! Keiner sollte uns in unser Leben dreinreden und schon gar nicht diese Funktionäre aus den damaligen Behin­dertenverbänden, die sich nur um Kriegs­verletzte kümmerten. Diese steifen, alten Knacker, die keine Ahnung hatten von uns! Wir wussten selber wo’s langgeht. Wir wollten alles neu und alles anders machen.
Wolfgang Siegert war einer von uns. Rollstuhlfahrer, und gerade erst von den Eltern in Augsburg nach München über­siedelt. Er hatte mit dem Studium der Informatik begonnen und erlebte wie wir alle, dass nur wenige Orte für uns Roll­stuhlfahrer zugänglich waren, wir selten an Veranstaltungen teilnehmen konnten, man uns auf der Straße dumm oder mit­leidig hinterher schaute. Aber wir waren keine exotischen Ungeheuer, wir waren Menschen, die dazugehören und frei leben wollten – so wie andere auch. Da gründeten wir den CBF München, Club Behinderter und ihrer Freunde.
Was für ein Abenteuer! Wir kämpften so lange um Bordsteinabsenkungen, bis die Stadt München sich des Problems annahm und heute jeden Bordstein an Straßenübergängen automatisch absenkt. Wir erstritten uns den Zugang zu Theatern, Kinos und dem Olympiagelände – Ram­pen, Preisnachlass, Behindertentoiletten und gute Plätze auch für Rollstuhlfahrer. Wir machten gemeinsam Ausflüge, trafen uns in den wenigen Kneipen, in die wir hineinkamen, und schworen: Alles muss besser werden - in München wenigstens!
Als wird forderten, die Münchener Stadtbibliotheken stufenlos auszubauen, schlug ein Städtischer Beamter vor, dass es doch sehr viel schöner sei für uns, eine einzige, mit allen Schikanen für Behin­derte ausgestattete Zentralbibliothek zu haben. Wir protestierten, wir wollten genau so wie jeder andere Münchner die Bibliothek in unserem jeweiligen Wohn­viertel besuchen – keine Luxus-Ausson­derung, bitteschön! Auf einen unserer Protestbriefe schrieb der damalige Kultur­referent mit Bleistift: „Dann machen wir es so, die geben ja doch keine Ruhe!“ Der hingekritzelte Satz war nur für seine Mitarbeiter bestimmt, aber wir bekamen ihn auf Umwegen in die Hand. Als selbst das Bayerische Sozialministerium schließlich einen Zuschuss gab, damit wir im Umkreis der Stiftung Pfennigparade schon mal mit dem barrierefreien Umbau des Viertels anfangen konnten, war der Durchbruch geschafft – man berücksichtigte unsere Vorschläge, die Zeitungen berichteten über uns, Architekten und Leute aus den Ministerien arbeiteten ehrenamtlich mit oder unterstützten uns wohlwollend. Und so ging es weiter – Wolfgang immer dabei.

Wolfgang Siegert hatte seit seiner Kinderzeit eine Poliobehinderung, die glücklicherweise nur seine Beine lähmte. So war er recht beweglich, fuhr Auto, segelte, begann bei einer Computerfirma zu arbeiten. Die schwere Nierentransplantation ntrans­plantation hatte er gut überstanden. Jetzt konnte das Leben losgehen.
Er wurde unser Verbindungsmann zu anderen Clubs. Denn wir waren nicht der erste CBF in Deutschland. Im Vorstand lei­stete er gute Arbeit und er war der beste Kumpel – witzig, gut gelaunt, gelassen, genussfreudig und klug.
Dann lernte er die schöne, dunkel­haarige Justine kennen. Damals arbeitete sie als Pflegerin in einer großen Behinderteneinrichtung. Nebenbei machte sie eine Ausbildung zur Beschäftigungsthe­rapeutin. Sie war die ideale Frau für ihn und er der ideale Partner für sie. Sie teilten ihre Lebensfreude, liebten gutes Essen – Justine kocht wunderbar – , sie schätzten beide ein gemütliches Heim, das Zusam­mensein mit Freunden in ihrer behinder­tengerechten Wohnung am Münchner Ostbahnhof. Diese Wohnung bot heime­lige Sitzecken und orientalische Diwane. Die Schränke waren überwuchert von Grünpflanzen, in denen zwei verrückte Katzen herumturnten. Eine von ihnen legte sich besonders gerne auf Wolfgangs breite Brust, direkt unter seinem Kinn. Die Katzen waren übrigens von klein auf ans Autofahren gewöhnt, so dass Wolfgang und Justine sie problemlos auf ihre zahl­reichen Reisen mitnehmen konnten.
Justine und Wolfgang – das zärtliche Paar, das die gemeinsamen Unterneh­mungen stets in vollen Zügen genoss. „Wir hatten ein so schönes Leben mitei­nander“, ließ Justine auf die Todesanzeige drucken. Nicht immer sagen Todesanzei­gen die Wahrheit. Diese schon.

Dann kam die Zeit, als für Wolfgang die Berufstätigkeit zur Last wurde. Seine Gesundheit war nicht mehr ganz so unver­wüstlich wie ehedem. Außerdem mussten die beiden sich entscheiden: Wollten sie weiterhin in München leben oder nach Aachen ziehen, wo Justine ein Haus geerbt hatte. Sie entschieden sich für Aachen. Das war ein großer Verlust für den CBF Mün­chen, aber das Richtige für die beiden. Sie konnten dort ein geräumiges Haus in Besitz nehmen. Wolfgang legte sich einen Hund zu, der ihm bis zur Schulter reichte Fam_Siegert– gutmütig, aber so kräftig, dass er ihn samt Rollstuhl mühelos durch die halbe Stadt zog. Und sie leisteten sich das, was sie sich schon lange gewünscht hatten – einen großen Teich im Garten, der bis zum Haus reichte, mit Wasserpflanzen, Frö­schen und Fischen. Den Eingang konnte man nur über Steg und Brücke erreichen. Eine paradiesische Zuflucht, die sie stets mit vielen Gästen teilten.
Das Foto auf der Todesanzeige zeigt sie beide in dieser häuslichen Umgebung, mit ihren Lieblingsbüchern und ihren Lieblingsbildern – in ruhiger, heiterer Har­monie.
Wolfgang Siegert – Gründungsmit­glied, gestorben am 22. Januar 2010.

Ingrid Leitner