Esagramma – Das etwas andere Musikprojekt

Dass Musik ganz andere Saiten im Menschen anspricht und neue, bisher ungeahnte Perspektiven eröffnen kann, zeigen eine Reihe von bemerkenswerten Initiativen der letzten Jahre: der Film „Rhythm is it!“ beschreibt ein Projekt des Dirigenten Sir Simon Rattle und der Berliner Symphoniker, mit Jugendlichen, vorwiegend aus Berliner „Problemschulen“, das Ballett Frühlingsopfer von Igor Strawinsky aufzuführen; das venezuelanische Programm „El sistema“ führt in großem Stil Jugendliche auch aus einfachen Verhältnissen zur Musik heran und im west-östlichen Diwan Orchester musiziert Daniel Barenboim mit jungen Musikern vor allem aus Israel und Palästina.

Aber können auch Behinderte zusammen mit nicht behinderten Musikern in einem professionellen Orchester spielen? Ist klassische Musik oder besser das ernsthafte Betreiben derselben durch das Spielen eines Instruments überhaupt etwas für behinderte Menschen? Selbstverständlich! Das zeigt uns ein bemerkenswertes Projekt aus Italien. Seit Mitte der achtziger Jahre widmet sich dort nämlich ein Mailänder Verein der Musiktherapie und gründete schließlich 1999 eine Art Genossenschaft mit dem Namen „esagramma“.

Diese Organisation wendet sich an Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit ernsthaften psychischen oder geistigen Problemen (als Beispiele werden Autismus oder bestimmte Psychosen genannt, aber auch Träger des Down-Syndroms werden aufgenommen), aber auch Jugendliche aus sozial oder familiär prekären Verhältnissen oder Eltern in Schwierigkeiten. Die durch „Esagramma“ angebotene Musiktherapie beginnt jährlich neu und bietet pro Kurs für maximal sieben Teilnehmer Platz. In einer drei Jahre dauernden Grundtherapie werden zum einen in kleinen Instrumentengruppen Werke klassischer Musik in geeigneten Arrangements einstudiert, aber auch Improvisationen ausprobiert, zum anderen werden in einer zusätzlichen „individuellen“ Musiktherapie zwischen Schüler und Therapeuten die musikalischen und sonstigen Erfahrungen im Rahmen des Musizierens in einer Gruppe vertieft und ausgewertet. Die Musiktherapie beschränkt sich also nicht auf die Vermittlung musikalischer Inhalte oder Fertigkeiten, sondern zielt auch ab auf eine Beeinflussung des Sozialverhaltens des betreffenden Schülers innerhalb der musizierenden Gruppe und im Verhältnis zu Eltern und sonstigem Umfeld. Symbolisch nimmt „Esagramma“ denn auch das Thema von „Das große Tor von Kiew“ aus Mussorgskys „Bilder eines Ausstellung“ als Ausgangspunkt eines jeden Kurses: dieses Thema soll für die Teilnehmer ein Tor zu einer neuen und großartigen, nicht nur an Tönen reichen Welt darstellen, auf deren Schwelle man nicht halt machen will und hinter dem die Musik und das Musizieren auch Vehikel für das Verhalten mit anderen und im Alltag im allgemeinen ist. Nach dieser dreijährigen Grundtherapie kann das Können durch einen weiteren Kurs von sechs Jahren vervollkommnet werden. In dieser Phase können die Teilnehmer auf Wunsch dann im Symphonieorchester Esagramma mitspielen, das auch aus den Lehrern des Programms und professionellen Musikern besteht und bereits an mehreren italienischen Orten sowie in Brüssel Konzerte gegeben hat.

Wolfgang Vogl