Ein halbes Jahr nachdem wir mit einigen Freunden den CBF München gegründet hatten, und jeden Montag ein Treffen abhielten, tauchte eine kleine Frau in einem großen Rollstuhl bei uns auf. Von da an kam sie jeden Montag, mehr als 35 Jahre.
Foto Lisl Viele Montage sagte sie kein Wort. Wir wussten nicht, interessiert sie das, was wir diskutierten, findet sie uns sympathisch? Und eines Tages fing sie an zu reden, bescheiden und zurückhaltend - und wurde immer selbstsicherer. Sie hatte einen kleinen, gedrungenen Körper, gut ausgebildete, kräftige Arme und Hände und kurze gelähmte Beine mit winzigen Füßen, an denen sie kleine selbstgestrickte Schühlein trug. Das Auffallendste aber war ihr Kopf, besser gesagt, ihr Gesicht: Es war klar geschnitten und wurde von schönen braunen, intelligenten Augen beherrscht, die aufmerksam alles wahrnahmen.
Sie konnte zwar nicht laufen, aber sie war trotzdem so beweglich und geschickt wie kaum ein anderer: Auf dem Boden sitzend putzte sie ihre Wohnung, auf einem Rollbrett schob sie sich durch ihren Garten und zupfte Unkraut, auf einem Schemel balancierend bügelte sie und passte auf ihre bettlägerige, häufig verwirrte Mutter auf, und durchs Moos krabbelnd suchte sie in den Wäldern um München Schwammerl - sie kannte alle guten Schwammerlplätze. Meistens trug sie ein hellblaues oder beigefarbenes Jäckchen - ebenfalls selbstgestrickt - und mit einem kecken kleinen Hut ausgestattet, war sie eine bekannte Persönlichkeit im Münchner Stadtviertel Milbertshofen. Bei Regen vervollständigte ein großer Schirm die markante Erscheinung.

Geboren wurde Lisl Hammer am 23.2.1930. Sie wog vier Pfund und hatte einen kleinen Höcker am Rücken. „Den bringen wir weg“, versprachen die Ärzte. Doch nach der Operation hatte Lisl gelähmte Beine, der Höcker aber war unverändert. Damals gab es keine Programme zur Förderung behinderter Kinder, keine Sonderpädagogik, keine Physiotherapie, keinen Rollstuhl.

Lisl und ihre Familie – sie hatte noch vier Geschwister - mussten mit der Behinderung alleine fertig werden. Und so blieb der Kleinen gar nichts anderes übrig als sich wie andere, sogenannte normale Kinder durchzuboxen so gut es ging, zu überleben in einer Welt, in der man solche wie sie "Krüppel" nannte und sie auslachte, schon deshalb, weil die Schwestern sie im Kinderwagen, oder in einem Leiterwägelchen hinter sich herzogen. Aber gerade diese Selbstverständlichkeit des Überall-Dabeiseins war ihre große Chance. Denn so nahm sie an allem teil und wurde einer der souveränsten Menschen, die ich je kennen gelernt habe. Denn sie wusste immer, was sie wollte, bewältigte und genoss ihr Leben und war einfach die Lisl, nicht mehr und nicht weniger, aber das voll und ganz.

Die Mutter hatte die Parole ausgegeben, dass alle Geschwister, vor allem aber ihre Schwester Mary, sich um die hilfsbedürftige Kleine zu kümmern hatten und keiner sie schlagen durfte. Der mütterliche Befehl wurde zunächst nur ungern befolgt, verursachte aber wohl doch eine gewisse Beißhemmung, so dass Lisl als einzige ohne Schläge aufwuchs. Man besorgte ein blechernes Himmelbett für sie und nach dem Krieg bekam sie ein eigenes Schlafkammerl. Sie wurde selbstbewusst und resolut. Wenn ihre Geschwister sie zu den Spielen auf der Straße im Kinderwagen mitschleppten, kam es, wie gesagt. häufig vor, dass die kleine Bucklige ausgelacht und beschimpft wurde. Da sie den Übeltätern nicht nachlaufen konnte, hatten die Geschwister eine einzigartige Vergeltungsform entwickelt: Sobald einer unverschämt war zur Lisl, fingen sie ihn, zerrten ihn zu Lisls Wägelchen, hielten ihn fest und Lisl selbst gab ihm eine Watschn.

Sie durfte keine Schule besuchen, denn solche wie sie waren damals ausgeschlossen aus dem deutschen Bildungssystem. Aber sie nahm das nicht so tragisch und lernte einfach alles von ihren Geschwistern, lesen, schreiben, rechnen. Sie konnte auch Zither spielen und kannte die Noten. Eines Tages machte man ihrer Mutter den Vorschlag, sie doch nach Schönbrunn zu geben, da hätte sie gute Betreuung und würde wohl auch ein wenig lernen. Dieses Schönbrunn war - und ist bis heute - ein Dorf mit Unterkünften für Behinderte in der Nähe von Dachau. Und so geschah es, Lisl kam nach Schönbrunn, in ein großes Haus mit vielen anderen behinderten Kindern, meist geistig behinderten.
Der kleinen Lisl, diesem selbstbewussten Straßenkind, hat es dort nicht gefallen, sie wollte nicht ausschließlich mit Behinderten zusammen sein und schon gar nicht mit solch minderbemittelten. Die Mutter kämpfte sechs Wochen lang darum, sie wieder nach Hause holen zu dürfen, was sich als schwierig erwies, denn es war die Zeit, in der die Deutschen alle Menschen aussonderten, die nach ihrer faschistischen Ideologie als lebensunwert galten. Schließlich setzte sich die Mutter durch. Lisl fuhr triumphierend nach Hause. Dem Abtransport in den Tod war sie gerade noch entgangen.

Als sie größer wurde und immer geschickter, half sie daheim im Haushalt, und als ihre Schwester Mary ein Kind bekam, zog Lisl es groß. Sie versammelte überhaupt stets Kinder aus der Nachbarschaft um sich und hütete sie, bis deren Mütter nach Hause kamen, las ihnen vor, erzog sie nüchtern und praktisch, und wenn sie etwas ausgefressen hatten, mussten sie vor Lisl hintreten und bekamen einen Klaps auf den Hintern. Foto Lisl

Als der Vater aus dem Krieg zurückkam, dauerte es nur vierzehn Tage und die Eltern waren so zerstritten, dass sie ab diesem Zeitpunkt in getrennten Zimmern schliefen. Der Vater war Alkoholiker, die Mutter trank ebenfalls. Es gab ständig Streit und Schläge. "Wenn ma oamoi wos drinkt, weil ma se freid und hod dann an Rausch, des macht nix, aba wemma aus Kumma sauft, des is schlecht, denn da Kumma gehd davo a ned weg, oda?!", kommentierte Lisl später die Alkoholsucht der Eltern. Aber sie selber war glücklicherweise gesund und schlug sich durch. Wie viele Verletzungen, wie viele Kränkungen mag sie ausgehalten haben. Trotzdem entwickelte sie sich unaufhaltsam zu dem, was sie war, als wir sie kennen lernten - zur Meisterin des kleinen Glücks!
Sie war zufrieden mit ihrem Leben, aß gerne abgebräunten Leberkäs mit Spiegelei, genoss ihren Schweinsbraten, Blut- und Leberwürscht und bayerische Süßspeisen. "Des neimodische Zeig", das die moderne Küche hervorbrachte, verachtete sie zutiefst. Auf ihrem kleinen Grundstück erntete sie gelbe Rüben, Petersilie und köstliche Mirabellen. Sie besuchte mit Vorliebe Biergärten und Eisdielen und wie gesagt, den Wald, den liebte sie besonders. Wenn sie viele Schwammerl fand, brachte sie mir ebenfalls welche und auch Erdbeeren, die sie selber gepflückt hatte - auf ausgesuchten Erdbeerfeldern. Denn sie kannte auch hier die mit den aromatischsten Früchten. Zu den wichtigsten Erlebnissen in ihrem Leben gehörten sicherlich die Clubreisen, eine Fahrt nach Rom, wo der Heilige Vater ihr die Hand drückte, und Pilgerfahrten zu den Bayerischen Wallfahrtsorten. Denn Lisl Hammer war ein gläubiger Mensch, und deshalb war sie auch lange Zeit Mitglied im Pfarrgemeinderat ihrer Pfarrei Sankt Lantpert. Mit 47 machte sie den Führerschein und brauchte dazu weniger Fahrstunden als andere in ihrem Kurs. Jetzt konnte sie sich und Schwester Mary selbständig in den Wald kutschieren.

Einmal reiste sie mit ihrer Schwester und ein paar Freunden nach Südspanien, in das schöne weiße Haus am Meer, das Clubmitgliedern gelegentlich zu Verfügung stand. Sie rollte begeistert durch den süß duftenden und üppig blühenden Garten, ließ sich, mit zwei dicken Schwimmreifen ausgestattet über die sie kaum hinausschauen konnte, in den Swimmingpool heben. Bei dieser Gelegenheit trug sie einen gestrickten zweiteiligen Badeanzug, den sie extra für diese Reise angefertigt hatte. Olé Espagna, alles wunderbar! - nur das Essen .... Glücklicherweise gab es in der Nähe einen Campingplatz mit einem kleinen Laden, wo Lisl ihre Vorliebe für Schweinswürstl und ähnlich Heimatliches mit anderen deutschen Urlaubern teilen konnte.

Ein andermal wollte sie nach Altötting fahren und hatte sich dafür bei den Maltesern angemeldet. Dann entschied sie sich plötzlich gegen den Massentransport und bat ein Clubmitglied, sie zu begleiten, und so fuhren sie zu zweit in aller Frühe mit dem Zug. Die Zentrale der Malteser hatte Lisls Reiserücktritt offenbar nicht weitergegeben, denn wenig später klingelten zwei Sanitäter an ihrer Wohnungstür. Die verwirrte Mutter, mit der Lisl zusammenlebte, öffnete im Nachthemd. Sie ließen sie noch rasch eine Kittelschürze übers Nachtgewand anziehen, dann nahmen sie sie mit. Lisl war inzwischen plangemäß im Wallfahrtsort angekommen und hatte sich mit ihrer Begleiterin in die große Kathedrale gedrängt, die rappelvoll war. Plötzlich ruckelte jemand an ihrem Rollstuhl. Sie drehte sich um und sah - die Mutter in Nachthemd und Kittelschürze! Sprachlos, wütend, besorgt, verließ sie die Kirche und rief ihre Schwester Mary an. Die war schon in der Wohnung gewesen, da sie sich in Lisls Abwesenheit um die Mutter kümmern wollte, und als diese weg war, hatte sie die Polizei benachrichtigt, die bereits das gesamte Stadtviertel absuchte.

Gemäß ihres Temperaments und ihres Charakters war Lisl stets eine zupackende und unbeirrt handelnde Frau. Und als sie sich schließlich auch im CBF ihren Platz erobert hatte, übernahm sie die Finanzen, die sie bis zu einem gewissen Grad selbstständig bewältigte und viele Jahre gut verwaltete. Wenn sie in irgendeiner Sache unsicher war, fragte sie ihre Schwester: "Des woas i jetzt ned, des muas ma d´Meri macha!" Für den Club war sie ein enormer Gewinn, denn sie war auch eine begnadete Geldsammlerin und geiziger als Dagobert Duck. Deshalb erklärte sie an Clubabenden etwa alle drei Monate: "Mia ham fei koa Geid mehr, da wea ma boid zuaschperrn miassn!" Bei solchen Treffen sorgte sie gelegentlich auch für Moral "Etzad sei hoid ned so wehleidig!" und für Gesprächsdisziplin: "Geh, wos vazeisdn da wida! An so an Schmarrn red dea daher!" Foto Lisl

Als sie älter und alles ein wenig mühsamer wurde, gab sie die Finanzen ab und kümmerte sich nur noch um den Bankverkehr, und das selbstverständlich nicht über das Internet oder das Telefon - "Des is nix für mi!" - sondern persönlich. Deshalb tauchte sie regelmäßig und pünktlich wie ein Gestirn am Himmel im Clubbüro auf und lieferte die Bankbelege bei Frau Wufka, der neuen Büroleiterin ab. Die Neue wurde von ihr auch umgehend in die Geheimnisse der Verköstigung eingewiesen, die ihr, der Lisl, anzubieten war, wenn sie am Vormittag erschien: "An Tee bittschen, koan schwarzn, liaba an Greiddatee, und a Mameladbrod, aba ned des seiwagmachte Mamelad, da hob i gnua dahoam, sondan des Erdbeermamelad vom PLUS, des schmeckd ma!" Also wurde das Gewünschte besorgt.

Als die kleine große Frau schließlich immer mehr von Plagen heimgesucht wurde - die Nieren arbeiteten nicht mehr richtig und Haut musste verpflanzt werden, weil sie unter offenen Stellen litt - weilte sie öfter in Krankenhäusern und war allmählich immer weniger ansprechbar. Als Frau Walla sie besuchte - es war der letzte Besuch eines Clubmitglieds bei ihr - hatte sie keine Kraft mehr zum Gespräch. Und nachdem ihr die Besucherin alle möglichen Neuigkeiten berichtet hatte, sagte Lisl abschließend "Jetzt host ma aba vui vazeiht!"

Am 1. März ist Lisl Hammer gestorben. Sie ist 78 Jahre alt geworden. Als ihre Schwester Mary begann, die Wohnung der Verstorbenen aufzulösen, fand sie einen bunten Berg von Strickwolle, die Lisl gehortet hatte, und etliche angefangene Pullover, Jäckchen und Schühlein.

Ingrid Leitner