Ausgangslage

Mittlerweile ist es mehr als zehn Jahre her, dass die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland in Kraft getreten ist (nämlich am 26. März 2009), und seitdem sind auf allen Ebenen Bemühungen erkennbar, die in der Konvention enthaltenen Gewährleistungen zugunsten von Menschen mit Behinderungen zu realisieren. So hat die Landeshauptstadt München bereits zwei Aktionspläne zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention verabschiedet, in die Verwirklichung der darin enthaltenen Einzelmaßnahmen erhebliche Ressourcen personeller, organisatorischer und finanzieller Art gesteckt und plant bereits einen dritten Aktionsplan.

Was ist aber mit der Justiz? Inwieweit bedürfen Menschen mit Behinderungen im Bereich der Justiz eines besonderen Schutzes und wie sollte der aussehen?

Die Antwort ist einfach: Stellen Sie sich vor, Sie wollen sich scheiden lassen und sitzen in einem größeren Elektro-Rollstuhl. Nun ist das Familiengericht des Amtsgerichts München in der Pacellistraße nur über Treppen oder Aufzüge erreichbar und Ihr Rollstuhl passt nicht hinein.  

Müssen sich daher einen schmaleren Rollstuhl anschaffen oder gleich den Wohnsitz wechseln, um von einem Familiengericht geschieden zu werden, das ebenerdig erreicht werden kann? Und weiter: Sie sind gehörlos und benötigen einen Gebärdendolmetscher. Müssen Sie den mitbringen oder reicht es aus, dass Sie Ihren Bedarf dafür zu Beginn kommunizieren, damit dem im Verfahren Rechnung getragen wird? Sie sehen: Auch in der Justiz ist die vollwertige Teilhabe von Menschen mit Behinderungen gar nicht so einfach.

 

Art.13 UN-Behindertenrechtskonvention

Dementsprechend war es nur folgerichtig, dass die UN-Behindertenrechtskonvention in einem eigenen Artikel 13 den Zugang zur Justiz regelt.  

Der besteht aus zwei Absätzen. In einem ersten Absatz wird eine umfassende Gewährleistung des Zugangs zur Justiz für Menschen mit Behinderungen ausgesprochen, gleichberechtigt mit anderen. Der zweite Absatz sieht sodann die Förderung geeigneter Schulungen für das Personal im Justizwesen vor. 

Internationale Grundsätze und Leitlinien für den Zugang von Menschen mit Behinderungen zur Justiz

Wie aber muss der Zugang zur Justiz für Menschen mit Behinderungen im Einzelnen aussehen? Und vor allem: Welche Aspekte sind davon umfasst? Dazu wurden im August 2020 internationale Grundsätze und Leitlinien veröffentlicht. Eine deutsche Übersetzung dieses ursprünglich in englischer Sprache abgefassten Textes liegt jetzt vor. Dabei wurde in zehn Grundsätzen der Zugang zur Justiz aus allen denkbaren Blickwinkeln beleuchtet. Das reicht von der Zugänglichkeit von Justizbehörden und -diensten (Grundsatz 2) über verfahrensbezogene Anpassungen (Grundsatz 3) bis zur gleichberechtigten Teilhabe an der Rechtspflege (Grundsatz 7) und zu Sensibilisierungsprogrammen auf dem Gebiet der Rechte von Menschen mit Behinderungen für das Justizpersonal (Grundsatz 10).



Mit den ersten beiden Grundsätzen möchte ich mich im Folgenden näher beschäftigen

Grundsatz 2: Zugänglichkeit von Einrichtungen und Diensten

Ein erster wichtiger Aspekt für eine Zugänglichkeit der Justiz für Menschen mit Behinderungen ist zunächst, in Justizgebäude, Polizeiwachen oder Gefängnisse hineinzukommen, sich darin bewegen und die Gebäude im Rahmen ihrer Bestimmung nutzen zu können. Die UN-BRK greift hier in Art. 2 Unterabsatz 5 auf den Begriff des universellen Designs zurück, rein praktisch wird man den Maßstab der Barrierefreiheit an Einrichtungen und Diensten anlegen, um eine Zugänglichkeit derselben zu beurteilen.

In Deutschland wird dies zum einen durch die Behindertengleichstellungsgesetze von Bund und Ländern, zum anderen durch die auf Landesebene erlassenen Bauordnungen sichergestellt. In Bayern beispielsweise sollen nach Art. 10 Abs.1 Satz 1 Bayerisches Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) „Neu-, Um- und Erweiterungsbauten der Behörden, Gerichte und sonstigen öffentlichen Stellen des Freistaates Bayern … entsprechend den allgemein anerkannten Regeln der Technik barrierefrei gestaltet“ werden. Dabei wird als barrierefrei angesehen, „was für Menschen mit Behinderung in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar ist“ (Art.4 Bay BGG). Weiterhin müssen nach Absatz 2 des mit „Barrierefreies Bauen“ betitelten Art. 48 der bayerischen Bauordnung (Bay BO) öffentlich zugängliche bauliche Anlagen zumindest in den „dem allgemeinen Besucher- und Benutzerverkehr dienenden Teilen barrierefrei sein.“ Darin eingeschlossen sind ausdrücklich Gerichtsgebäude (Ziffer 5, ähnliche Vorschriften wie im BayBGG und in der BayBO enthalten auch die Gesetze der anderen Bundesländer).

Viele neuere Justizgebäude entsprechen bereits diesen gesetzlichen Vorgaben. Historisch bedingt wurden aber zahlreiche Gerichtsgebäude in Deutschland um die vorletzte Jahrhundertwende herum erbaut (so auch der Münchner Justizpalast) und müssen – nicht nur baulich – hinsichtlich der zu fordernden Barrierefreiheit angepasst werden. Wer genau hinsieht, wird feststellen, dass vielerorts einige Maßnahmen bereits vorgenommen wurden, beispielsweise der Einbau von Aufzügen im Justizpalast, noch lange sind alle Anforderungen an Barrierefreiheit aber nicht erfüllt.

 

Grundsatz 3 Verfahrensrechtliche Vorkehrungen   

Ebenso wichtig wie Vorschriften, die einen barrierefreien Zugang zu Einrichtungen und Diensten in der Justiz gewährleisten, sind aber auch verfahrensrechtliche Vorkehrungen. Ein gehörloser Angeklagter muss die Möglichkeit haben, über einen Gebärdendolmetscher die Tatvorwürfe im Strafprozess zu erfahren und einem kognitiv beeinträchtigten Ehegatten muss es möglich gemacht werden, das Scheidungsverfahren in seinen Einzelauswirkungen zu verstehen. Allgemein ausgedrückt  sind Maßnahmen zu treffen, die Menschen mit Behinderungen in die Lage versetzen, an gerichtlichen Verfahren (als Verfahrenssubjekt) teilzunehmen. Dies reicht von einer Anpassung des Verfahrenstempos über geänderte Vernehmungsmethoden bis zur Änderung der Kommunikation.

Vorschriften im deutschen Recht, die sich dieser Thematik annehmen, gibt es nur wenige: So enthält das Gerichtsverfassungsgesetz Regelungen zur Unterstützung der Kommunikation mit hör- oder sprachbehinderten  (§ 186 GVG) sowie blinden und sehbehinderten (§ 191a GVG) Personen oder die Zivilprozessordnung eine Sondervorschrift für die Eidesleistung einer sprach- oder hörbehinderten Person (§483 ZPO). Abgesehen von wenigen Einzelfällen fehlt aber eine ausdrückliche Regelung, wie Personen mit Behinderungen in Verfahren zu unterstützen sind. Es verwundert daher nicht, dass sich das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) damit auseinandersetzen musste. Ausgangspunkt ist für das BVerfG das grundgesetzliche Benachteiligungsverbot von Menschen mit Behinderungen gemäß Art.3 Absatz 3 Satz 2 GG. Eine Benachteiligung ist danach auch verboten „ wenn die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung im Vergleich zu derjenigen nicht behinderter Menschen durch gesetzliche Regelungen verschlechtert wird, die ihnen Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten, welche anderen offenstehen.“ (Bundesverfassungsgericht Nichtannahmebeschluss, 27. Nov. 2018 - 1 BvR 957/18) Unter ausdrücklicher Berufung auf Art.13 UN-BRK bedinge dies auch, dass Gerichte „bei der Anwendung und Auslegung von verfahrensrechtlichen Vorschriften … der spezifischen Situation einer Partei mit Behinderung so Rechnung tragen, dass deren Teilhabemöglichkeit der einer nichtbehinderten Partei gleichberechtigt ist.“(ebenda)

Es wäre wünschenswert, wenn sich der Gesetzgeber dieses Themas endlich annähme und verfahrensrechtliche Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen umfassend regelte. Eine gewisse Hilfe ist die Auslegung des BVerfG aber doch.

Wolfgang Vogl