Der dunkle Bildschirm des Computers erhellt sich und das Gesicht eines Mannes schaut dir daraus aus nächster Nähe entgegen, geradewegs in die Augen, so dass du dich unweigerlich hineingezogen fühlst, so als säßest du persönlich im Theater – nein besser, denn du befindest dich Auge in Auge mit dem Schauspieler, der dich beobachtet und dem du fast ausgeliefert bist. Und es besteht ja auch eine ungewohnte Interaktivität, denn er kann dich sehen, wenn du die Videofunktion deines Computers anhast und hören, wenn du auch die Stummschaltung aufgehoben hast. Und so beginnt ein spannender einstündiger Theaterabend im Residenztheater, der nicht nur den beeindruckenden Text „Finsternis“ des italienischen Autors Davide Enia über die Flüchtlingskrise und die Situation in Lampedusa zur Aufführung bringt, sondern gut vor Augen führt, welche grandiosen Momente das digitale Theater auch bieten kann.

Seit nunmehr Anfang November sind alle Theater geschlossen und wer immer sich für klassische oder zeitgenössische Darbietungen interessiert, ist ausgehungert, zumal angesichts stagnierender oder gar steigender Inzidenzwerte auf absehbare Zeit ein Theaterbesuch allenfalls mit tagesaktuellem Coronatest möglich sein wird – wenn überhaupt.

Was also liegt näher, als die digitalen Angebote der Theater auszuprobieren?  Fast alle Theater haben mittlerweile Online-Spielpläne mit eigens für dieses Format geschaffenen Produktionen und es lohnt sich, Spielpläne der Theater sowie die Kulturteile der Zeitungen zu durchstöbern, um interessante Aufführungen zu entdecken. So war im November eine Dramatisierung des Romans Zauberberg von Thomas Mann im Deutschen Theater Berlin zu sehen, der Künstler Nikolaus Habjan zeigt mit Neville Tranter eine Aufführung mit Klappmaulpuppen im Schauspielhaus Graz oder die Kammerspiele München stellen ihre neue Partnerschaft mit einem Theater in Warschau vor.

Viele Produktionen kann man zu bestimmten Zeiten per kostenlosem Livestream sehen. Andere sind kostenpflichtig. So muss man beispielsweise für obiges Stück „Finsternis“ im Residenztheater ein Ticket lösen, was unkompliziert zu bewerkstelligen ist, aber dennoch nicht einfach, da das Stück verdientermaßen geradezu euphorisch besprochen wurde und bei allenfalls 15-20 Zuschauern pro Vorstellung schnell ausverkauft ist. Hat man aber ein Ticket ergattert, so bekommt man am Veranstaltungstag mittags einen Zoom-Link zugeschickt. Den klickt man dann am Abend an und landet im virtuellen Warteraum mit den anderen (glücklichen) Zuschauern. Von einer freundlichen Residenztheater-Mitarbeiterin wird man dann in den Zuschauerraum gelotst, in Corona Zeiten also den schwarzen Bildschirm, auf dem dann das Schauspiel beginnen kann.
Theater wird immer die Live-Begegnung, das Live-Erleben und die Konfrontation vor Ort mit Menschen, Meinungen und Situationen ausmachen. Digitales Theater kann dies nie ersetzen. In Zeiten, in denen pandemiebedingt der Besuch von Theatern nicht möglich ist, öffnet digitales Theater aber zumindest die Türen zur Aufführung und wenn es so großartig inszeniert ist wie im Fall von „Finsternis“ auch neue Perspektiven. In einer Zukunft ohne oder mit gebändigter Corona werden wir dann hoffentlich zum Theater vor Ort zurückkehren können, aber digitale Formate als bereichernde Ergänzung möglichst beibehalten.         

Wolfgang Vogl