…  oder im Umkehrschluss:  Die Versagung angemessener Vorkehrungen muss als Diskriminierung bewertet werden!  

Zu dieser Erkenntnis kommt bereits im Jahr 2009 die allseits geschätzte Behindertenaktivistin, Frau Prof. Dr. Theresia Degener, wenn sie beschreibt, dass das Deutsche Recht hier keinesfalls eindeutig ist. Als klassisches Beispiel für eine angemessene Vorkehrung führt sie die behindertengerechte Anpassung eines Arbeitsplatzes an den jeweiligen Arbeitnehmer auf, weist aber zugleich darauf hin, dass das Versagen der Maßnahmen in die allgemeinen Definitionen des Allgemeinen Gleichstellungsgesetzes nicht aufgenommen wurde, es somit nicht einklagbar ist und schon gar nicht an eine Strafzahlung geknüpft werden kann.

Im vergangenen Jahr haben wir das Thema Teilhabe im Hinblick auf die Lebensbereiche Schule, Arbeit, Wohnen, Mobilität, Gleiche Anerkennung vor dem Recht (z. B. bei dem Ausschluss von Wahlen) sowie Teilhabe am kulturellen, politischen und öffentlichen Leben in einzelnen Textbeiträgen betrachtet. Auch dabei wird deutlich, dass vielfach genau dieses Instrument nicht wirksam zum Einsatz gebracht werden kann und allein auch deswegen 10 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention weiter eine eklatante Kluft zwischen Anspruch und Realität bei der Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben existiert.  

So belegen zahlreiche Statistiken, dass im Jahr 2017 die Zahl Beschäftigter in den Werkstätten für behinderte Menschen erheblich höher ausfiel als noch 2009, im Jahr des Erlasses der Behindertenkonvention. Selbiges gilt auch für die Versorgten im Bereich stationärer Wohneinrichtungen. Im Bereich der schulischen Inklusion ist das Land Bayern laut der aktuellen Bertelsmann-Studie von 2019 eines von nur noch drei Bundesländern, in denen im Schuljahr 2016/2017 mehr Kinder auf Förderschulen gingen, als dies im Schuljahr 2008/2009 der Fall war.

Ansätze gelungener Inklusion finden häufig in sogenannten Leuchtturmprojekten statt wie in der Martinsschule in Greifswald (wir berichteten im Januar). Hier wird eindrucksvoll bewiesen, dass mit der erforderlichen Ausstattung, dem Engagement der Lehrkräfte und der Möglichkeit, eigene Schwerpunkte zu setzen, Ergebnisse zu erzielen sind, die über dem Durchschnitt in den jeweiligen Bundesländern liegen. Wo aber bleiben angesichts derartig ermunternder Erfahrungen die notwendigen politischen Vorgaben für die Umsteuerung, die für die Betreiber prozesshaft und planbar von statten gehen, die aber auch verlässlich und unumkehrbar in Gang gesetzt werden müssen? Wann endlich münden diese Erfahrungen in eine regelhafte Schulpolitik?

Als gelungen kann die Abschaffung der bislang existierenden Wahlrechtsausschlüsse gesehen werden, auch wenn es im 1. Anlauf zahllose Hürden zu bewältigen gab und, ob der Überforderung unserer Verwaltung, an der Europawahl wohl kaum mehr als ein kleiner Teil der bislang Ausgeschlossenen partizipieren konnte.  Spannende Erfahrungsberichte dazu sind in den Ausgaben vom Mai und August einsehbar.

Manches Mal haben wir es auch mit gesetzlich verbrieften Ansprüchen zu tun, die in der Praxis mit so vielen Regeln konkurrieren, dass diese ihre nutzbringende Wirkung nicht entfallen können. Zu denken wäre da an die – durchaus segenbringenden Zuschüsse der Kreditanstalt für Wiederaufbau, welche von Menschen mit Behinderung beantragt werden können, um die Wohnung, in der sie leben, auf ihre aktuellen Bedürfnisse anzupassen, also bspw.  die Adaption des Bades vorzunehmen und die Wanne gegen eine barrierefrei nutzbare, befahrbare Dusche auszutauschen. Ein Klassiker und Beispiel für das Ergreifen gelungener angemessener Vorkehrungen. Gemäß § 554a BGB kann der Mieter die Zustimmung zu notwendigen Umbaumaßnahmen verlangen, der Vermieter dem jedoch widersprechen, wenn ein überwiegendes Interesse am unveränderten Erhalt der Mietsache überwiegt. Dieses Interesse ist indessen in zahlreichen Prozessen verneint worden, zumal der Vermieter die Zustimmung auch von der Leistung einer angemessenen Rücklage für den Rückbau bei Auszug abhängig machen kann. Das aber bedeutet nichts anderes als die Belastung des Antragstellers, falls der Vermieter nicht zustimmen möchte, bzw. dieser auch nicht die mit der Umbaumaßnahme unzweifelhaft verbundene Wertsteigerung als solche erkennt, dass der Mieter schnell einmal Rückbaukosten in einer unteren fünfstelligen Summe aufbringen muss – spätestens hier verliert der Rechtsanspruch seine Wirksamkeit.  

Immer wieder wird die Behauptung aufgestellt, die Gesellschaft sei auf so eine große Aufgabe noch nicht vorbereitet. Inklusion begänne im Kopf. Diese Aussage höre ich immer wieder auf Vorträgen von Politikern, Kostenträgern und Leistungserbringern. In der Öffentlichkeit nehme ich wahr, dass die sogenannte Zivilgesellschaft diesen Vorgang meist schon klarer, differenzierter und vor allem solidarischer für sich beantwortet hat als jene, welche die erforderlichen Entscheidungen zu treffen und auch zu gestalten haben. Und so verwundert es nicht, dass die Monitoringstelle der UN-Behindertenrechtskonvention, angesiedelt beim Deutschen Institut für Menschenrechte, in Ihrer jüngst veröffentlichten Analyse folgende Feststellung trifft: „Die Bedeutung der UN-Konvention in der ersten Dekade ihrer Umsetzung wird sehr unterschiedlich bewertet. Während die einen die normative Kraft der UN-BRK nutzen, um gesellschaftlichen Wandel anzustoßen, möchten andere das Kapitel UN-BRK schon lange geschlossen wissen.“ (…) „Fakt ist: Nur ein kleiner Teil von Politik und Gesellschaft nimmt den Auftrag der UN-BRK bislang an und setzt ihn praktisch um, während andere gesellschaftliche Kräfte absichtlich oder unabsichtlich dem Ziel einer inklusiven Gesellschaft entgegenwirken“ (aus: Analyse: Wer Inklusion will sucht Wege. Deutsches Institut für Menschenrechte. März 2019. ISBN 978-3-946499-45-9). Es lässt sich unschwer zuordnen, an wen sich dieser Vorwurf insbesondere richtet.

Ich bin überzeugt davon, dass es auf dem Weg zu einer erfolgreichen und nachhaltigen Inklusion auch neue Mitspieler und Aktivkräfte braucht, die unvorbelastet und geradezu infiziert von den neuen Möglichkeiten und deren neuem Wertekanon Angebote entwickeln, welche den neuen Chancen zum Durchbruch verhelfen. Dabei ist jeder auch noch so kleiner Zusammenschluss bspw. von betroffenen Eltern auf der Suche nach einem geeigneten Wohnprojekt zu begrüßen. Unsere Aufgabe – die Aufgabe der Selbstvertretung und Selbsthilfe – ist dabei, die Ideen mit den vorhandenen Mitteln konzeptionell tragfähig zu gestalten und die immer noch reichhaltigen Hürden gemeinsam zu überwinden. Einen guten Partner findet man unter anderem in den Stellen der Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatung. Sie arbeiten nach dem Konzept „Betroffene beraten Betroffene“, besitzen als Experten in eigener Sache eine besondere Glaubwürdigkeit und stehen den Ratsuchenden auf der Suche nach dem für sie passenden Angebot zur Seite.  Uns muss es vor allem darum gehen jeglichem Stillstand oder gar der Umkehr aller Inklusionsbemühungen entgegen zu treten und Haltung zu bewahren.  

 

Fazit: 

Manche Projekte  zeigen das gesamtgesellschaftliche Potential, welches der Inklusionsdebatte zu Grunde liegt, einige Entwicklungen können als alarmierend angesehen werden und führen in die völlig falsche Richtung, unendlich viel bleibt jedoch auch im kommenden Jahrzehnt, dem zweiten seit Einführung der Behindertenrechtskonvention zu tun – packen wir es gemeinsam an!

Im Verlauf der Debatte haben die betroffenen Menschen mit Behinderung immer wieder die Definitionsmacht über den Begriff Inklusion aus der Hand gegeben. Unerhört, was alles als Inklusion bezeichnet wird und wurde – „Vielfalt“ vielleicht – Etikettenschwindel allemal! Diesen gilt es jedes Mal aufs Neue aufzudecken und – auch wenn´s schwerfällt und mitunter nervt – bloßzustellen.

Lassen Sie sich nicht blenden! Der Weg ist nicht das Ziel – sondern das Ziel muss klar benannt werden. Der Wandel muss den umfassenden Ansprüchen und Herausforderungen des Vorhabens gerecht werden und die Wege aufs Ziel hin müssen in planvollen, terminierten Zwischenschritten beschrieben werden, die von Allen für Alle begehbar ausgestaltet werden.

Peter Pabst