Was ist Glück?  

Und was ist Glück angesichts der Zerbrechlichkeit und Verwundbarkeit des Lebens. Sollte, wer über Glück redet, nicht zuerst das Unglücklichsein und Scheitern von uns Menschen beachten? Was macht Menschen glücklich und was lässt sie unglücklich werden?

Das Buch „Ziemlich verletzlich, ziemlich stark“, Wege zu einer solidarischen Gesellschaft von Philippe Pozzo di Borgo, Jean Vanier und Laurent Cherisey, enthält dazu wichtige Einsichten.  

Alles Unglück der Welt auf dem Bildschirm

Philippe Pozzo di Borgo, – bis zu seinem 42. Lebensjahr Geschäftsführer des Champagnerunternehmens Pommery, dann durch einen Gleitschirmunfall vom Hals ab querschnittgelähmt, dessen Leben vielen bekannt wurde durch den Film „Ziemlich beste Freunde“ –, berichtet davon, wie er sich nach Erscheinen seiner Autobiografie vor Mails nicht mehr retten konnte, in denen alles Unglück der Welt auf seinem Bildschirm landete und die Unermesslichkeit der geschilderten  Verzweiflung ihn überwältigte. In einem Interview mit Elisabeth von Thadden sagt er:

„Es klafft ein Abgrund zwischen den Anforderungen der Gesellschaft und dem, was sich in den Menschen zuträgt. Sie fühlen sich abgehängt, ausgeschieden, zerstört, beladen, gejagt, sie sind voller Scham und Angst, weil sie nicht leisten können, was man von ihnen verlangt, als Arbeitnehmer, als Familienväter, als Migranten oder Arbeitslose, es sind alle Lebenssituationen dabei, ob mit körperlicher Behinderung oder nicht… All diese Mails belegen ein massenhaftes Gefühl des Scheiterns… Die Menschen wollen ein sinnvolles Leben führen, sie wollen sich nicht fortgesetzt drängen und hetzen lassen. Jeder weiß oder ahnt doch zumindest, dass die menschliche Existenz zerbrechlich ist. Man glaubt nicht mehr an das Trugbild des ewig jungen und starken schönen Menschen. Die Zerbrechlichkeit muss wieder von den Rändern ins Zentrum rücken.“ (Ziemlich verletzlich, ziemlich stark, S.8f.)

Die Verschleierung der Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz

Diese Verwundbarkeit menschlicher Existenz werde verschleiert durch die vielfältigen Trugbotschaften der Medienkultur mit ihren überzogenen Wünschen und Ansprüchen an Leistung, Effizienz, Schönheit, ewige Jugend, Unverwundbarkeit, sogar Unsterblichkeit. Diese verzerrten nicht nur die Wirklichkeit, sondern führen auch zu einem fraglichen Menschenbild und zu permanenten Angstzuständen.

Kein Glück ohne elementare Beziehungen

Für Pozzo di Borgo sind elementare Beziehungen (statt Gleichgültigkeit) für das Glück und Glückserleben zentral; wechselseitige Abhängigkeit, ein Geben und Nehmen, das auf freundliche Weise geschieht, sei keine Minderung der Würde, sondern führe zum Glück.

Pozzo di Borgo sagt:

„Als ich vor zwanzig Jahren lernen musste, mit der Schwerstbehinderung zu leben, merkte ich irgendwann, dass es nichts Elementareres gibt, als ein menschliches Gegenüber zu haben. Die Einsamkeit in unseren individualistischen Gesellschaften ist das Schlimmste… Das Glück besteht im Austausch mit anderen Menschen.“ Menschen mit Behinderung seien im Beziehungsgeschehen von Geben und Nehmen keineswegs bloß die bedürftigen Empfänger, sondern hätten ebenfalls etwas zu geben, eröffneten einen anderen Blick auf den Menschen, das Menschsein und führten zu einem vertieften Umgang mit den eigenen Ängsten (vgl. a.a.O., S. 11) Zudem würden Menschen, die von einer Behinderung geschwächt sind, eine heilsame Rolle als Wächter auf dem Weg in eine humanere Gesellschaft leisten und vor dem Abdriften in inhumane Zustände warnen.  

„Brüderlichkeit“ als Grundlage einer solidarischen Gesellschaft  

Philippe Pozzo di Borgo findet im Wort „Brüderlichkeit“ (eine der Losungen der Französischen Revolution 1789/ Liberté, Égalité, Fraternité) das Gegenprogramm zu einem Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, das darauf ausgerichtet ist, die egozentrischen Bedürfnisse des Individuums optimal zu befriedigen und die Autonomie und die Unabhängigkeit als höchste Werte zu proklamieren. Zur „Brüderlichkeit“ gehören die Bereitschaft der Menschen einander beizustehen. Pozzo di Borgo will als „unbeweglicher Krieger“ seinen Beitrag zu einer solidarischen Gesellschaft leisten. Auch wenn Pozzo di Borgo sich selbst als areligiös und ungläubig bezeichnet, ist er dennoch von Jesus, den er durch seinen Großvater kennenlernte, begeistert und von dessen Güte und Großzügigkeit weit mehr inspiriert als von Marx.

Geld allein macht nicht glücklich

Die Sehnsucht behinderter Menschen nach Beziehung, Verbundenheit  und Dazugehörigkeit lässt sich durch Geld allein nicht stillen. Auch wenn staatliche finanzielle Investitionen für ein barrierefreies Leben notwendig und unumgänglich sind, darf die finanzielle Entlastung nicht das Einzige sein, was behinderten Menschen von Seiten der Gesellschaft angeboten wird. So ist – wie im Buch „Ziemlich verletzlich, ziemlich stark“ beschrieben –, eine junge Frau mit einer Behinderung trotz einer hohen finanziellen Unterstützung ziemlich unglücklich darüber, dass sich für sie keine unbezahlten, nicht professionellen Beziehungen ergeben.  

Das Glück im Genießen einfacher Dinge

Für Pozzo di Borgo gehört zum Glück die Freude an den einfachen Dingen, die auch damit zu tun hat, nicht durch die Zeit zu rasen, sondern in der Gegenwart mit allen verfügbaren Sinnen zu leben.

„Trotz des Leids freue ich mich sehr, dass ich lebe. Wenn Sie wüssten, wie gut mir meine Tasse Kaffee am Morgen schmeckt.“(a.a.O., S.44)

Glück durch wertschätzende Blicke

Im Buch „Ziemlich verletzlich, ziemlich stark“ wird auch herausgestellt, dass der Blick, mit dem man angesehen wird, für Glück oder Unglück von (behinderten) Menschen verantwortlich sein kann. Nicht selten treffen gerade behinderte Menschen Blicke, die aussondern, abschätzig sind, diskriminieren und im eigentlichen Sinn „behindern“. So fordern Philippe Pozzo di Borgo und sein Pfleger Abdel Sellou in mehreren Interviews:  

Wir, die kaputten Typen, wir wollen nicht euer Mitleid, sondern mit anderen  Augen gesehen werden, mit einem Blick, der uns als ganzen Menschen wahrnimmt. Wir sehnen uns nach einem Lächeln, einem Austausch, der uns stärkt, weil er uns sagt, dass es uns gibt und dass wir wertvoll sind.“ (a.a.O., S. 48)

Glück in der Stille

Zum Glückserleben dieses inneren Wertes der eigenen Person, unabhängig und vor aller Leistung, trägt besonders die Stille bei. Philippe Pozzo di Borgo beschreibt sich selbst als Krachmacher, der nie zur Ruhe kam und darauf abgerichtet war, „die ganze Erde zu verschlingen“.  

„Erst als ich mich reglos in einem fast stillen Raum wiederfand, merkte ich, dass ich mein ganzes Leben einen Höllenlärm veranstaltet hatte. In dieser Stille fand ich wieder zu mir. Ich stellte mir die richtigen Fragen... Wenn man die Stille zulässt, vermag man wahrzunehmen, was man sich im tiefsten Herzen wünscht.“(a.a.O., S. 73)

Philippe Pozzo di Borgo empfiehlt im letzten Satz seines Buches:  

„Warten Sie nicht, bis Sie unberührbar geworden sind, um das Glück wieder in Ihrem Leben zuzulassen.“ (a.a.O., S.89)

Zum Nachdenken:

Worin, wodurch, wobei oder mit wem bin ich glücklich?

Was bedeutet für mich Glück?

Literatur:  

Philippe Pozzo di Borgo, Jean Vanier und Laurent Cherisey „Ziemlich verletzlich, ziemlich stark“, Wege zu einer solidarischen Gesellschaft , deutsche Ausgabe München 2012

 

Zusammenfassung, Gustav Schädlich-Buter, Seelsorger in der Stiftung Pfennigparade