Aktueller Stand aus Sicht der LAG SELBSTHILFE Bayern e.V.

Die vor 10 Jahren in Deutschland ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) rückt neben dem Begriff der Inklusion vor allem den Begriff der Partizipation in den Mittelpunkt. Partizipation oder auch Beteiligung ist zum einen die Teilhabe an allen gesellschaftlichen Lebensbereichen und bezieht sich dabei zunächst auf die Möglichkeiten der individuellen Lebensgestaltung. Die UN-BRK geht hier allerdings noch erheblich weiter. Beispielsweise stellen Mißling/Ückert in einer Studie des Deutschen Instituts für Menschenrechte zur inklusiven Bildung in Deutschland fest: „Die Partizipation von Menschen mit Behinderungen an gesellschaftlichen Vorgängen jeglicher Art ist ein menschenrechtliches Kernanliegen und Querschnittsthema der UN‐BRK. Der Partizipationsbegriff der UN‐BRK geht über den deutschen Begriff der Teilhabe hinaus; er ist im Sinne umfänglicher Teilnahme zu verstehen. Umfasst wird hiervon politische Einflussnahme durch Interessenvertreter und Interessenvertreterinnen auf Gesetzgebungsvorhaben, aber auch die Mitwirkung von Betroffenen, Interessen- und Betroffenenverbänden an Entscheidungen...“.1  

Will man folglich gesellschaftliche Teilhabe ernsthaft ermöglichen, dann muss den betroffenen Menschen und deren Organisationen die Möglichkeit eingeräumt werden, Ihre Interessen gegenüber Politik, Verwaltung und Gesellschaft zu vertreten.  

Vor dem Hintergrund der extrem vielfältigen und teilweise widersprüchlichen Bedarfslagen hat man bereits in den frühen fünfziger Jahren die Notwendigkeit erkannt, eigene Strukturen zu etablieren, um gemeinsame Zielsetzungen zu diskutieren, auszuhandeln und nach außen zu vertreten. Dies war auch die Geburtsstunde der LAG SELBSTHILFE Bayern e.V., der Dachorganisation von heute 110 landesweit tätigen Selbsthilfeorganisationen von Menschen mit Behinderungen bzw. chronischen Erkrankungen. Das Motto lautete damals wie heute: „Nichts über uns ohne uns!".  

Aktuelle Beteiligungsmöglichkeiten  

Mit Blick auf unsere jahrzehntelange Erfahrung als Interessenvertretung muss natürlich hervorgehoben werden, dass zwar langsam, aber in zunehmendem Maße Beteiligungsrechte für Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen an den unterschiedlichsten Stellen eingeräumt werden. Besonders können hier folgende aktuelle Beispiele genannt werden:

- Im Zusammenhang mit der landesrechtlichen Umsetzung des BTHG sind wir bei der Entwicklung eines Bedarfsermittlungsinstruments zur Gewährung von Leistungen der Eingliederungshilfe in Bayern beteiligt. Der Interessenvertretung wird hier ausdrücklich eine Sperrminorität eingeräumt.

- Im Zusammenhang mit der landesrechtlichen Umsetzung des BTHG sind wir bei den Verhandlungen zu neuen Rahmenverträgen zwischen den Bezirken und den Dienstleistern im Bereich Behinderung beteiligt. Der Interessenvertretung wird hier nur eine beratende Rolle zuerkannt.

- Im Gesundheitsbereich gibt es seit 2004 die gesetzlich geregelte Patientenbeteiligung bei den unterschiedlichen Ausschüssen der Akteure im Gesundheitswesen. Den Interessensvertretungen wird hier nur eine beratende Rolle zuerkannt.

- Beteiligung bei unterschiedlichen Gremien auf Landesebene (Landesbehindertenrat, Landesschulbeirat, Landesgesundheitsrat, Landesrundfunkrat, etc.). Diese Gremien haben zwar in der Regel die Möglichkeit, bestimmte Themen in den Mittelpunkt der Diskussion zu stellen, allerdings liegt der Fokus auf der Beratung von Politik und Verwaltung.

- Beirat zum Verwaltungsrat des medizinischen Dienstes der Krankenkassen. Dem Beirat wird nur eine beratende Rolle zuerkannt.

Das Neun-Stufen-Modell der Partizipation von Wright/Block/von Unger2, welches vor dem Hintergrund der partizipatorischen Gesundheitsforschung entwickelt wurde, gibt Aufschluss darüber, in welchem Maße wir in den unterschiedlichen Bereichen bereits von Partizipation sprechen können:

 
Quelle: http://www.partizipative-qualitaetsentwicklung.de/partizipation/stufen-der-partizipation.html


Mit Blick auf dieses Stufenmodell wird deutlich, dass wir uns in aller Regel aktuell nur in unterschiedlichen Vorstufen der Partizipation bewegen. Im neuen Bundesteilhabegesetz wurden zwar erstmals Beteiligungsrechte bei der Ausgestaltung von Rahmenbedingungen für Menschen mit Behinderungen geschaffen. Jedoch sind wir dabei größtenteils noch weit von „echter“ Partizipation entfernt und stehen oft vor der Herausforderung, uns in teilweise seit Jahrzehnten gewachsenen und eingespielten Verhandlungs- und Diskussionskulturen eine ernstzunehmende Position zu erarbeiten. 

Inklusion ist ein Querschnittsthema, für das also alle politischen Ebenen und Ressorts Verantwortung tragen. Gerade die örtliche Ebene nimmt hier natürlich eine herausragende Rolle ein. Es wäre z.B. wünschenswert, dass in allen Kommunen begleitende und beratende Interessenvertretungen der Menschen mit Behinderungen etabliert werden.

Was braucht Beteiligung?

Wenn wir an der Ausgestaltung von Leistungs- und Versorgungsstrukturen für Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen beteiligt sind, müssen wir immer wieder feststellen, dass die aktuellen Rahmenbedingungen kaum diskutabel erscheinen. Nicht zuletzt aufgrund der immensen Investitionen aus der Vergangenheit ist nur wenig Bereitschaft erkennbar, diesen Rahmen vor dem Hintergrund der UN-BRK umzusteuern bzw. weiterzuentwickeln. Beispielhaft kann hier natürlich das Förderschulwesen, die Versorgung von Menschen mit Behinderungen in großen Komplexeinrichtungen oder auch der Bereich der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen genannt werden. Die Schwierigkeit besteht oft darin, ein Bewusstsein für die menschenrechtlichen Zielsetzungen der UN-BRK zu erzeugen. 

Nachdem in der Regel keine tatsächlichen Mitbestimmungsrechte eingeräumt werden, gibt es derzeit nur mittelbare Möglichkeiten (z.B. über Öffentlichkeit), unseren Forderungen entsprechenden Nachdruck zu verleihen. Im Lichte der aktuellen Situation wird deutlich, dass bestimmte Rahmenbedingungen unbedingt erforderlich sind, um Beteiligung möglichst optimal ausgestalten zu können:

- Der Begründer des Konzepts des Empowerments, Julian Rappaport, hat den Satz geprägt „Rechte ohne Ressourcen zu besitzen, ist ein grausamer Scherz“. Besonders deutlich wird das, wenn fehlende Ressourcen für Barrierefreiheit bei der Beteiligung (Assistenz, leichte Sprache, etc.) dazu führen, dass Beteiligung faktisch nicht möglich ist.

- Sicherlich stehen uns in Bayern im Vergleich zu anderen Bundesländern mehr finanzielle wie personelle Ressourcen im Bereich der Interessenvertretung für Menschen mit Behinderungen zur Verfügung. Trotzdem sind wir noch lange nicht auf Augenhöhe mit beispielsweise Wohlfahrtsverbänden, großen Leistungserbringern oder unterschiedlichen öffentlichen Verwaltungen. Gerade auch die vielfältigen Themen und die teilweise extrem komplexe Rechtslage machen deutlich, wie notwendig eine optimale Ausstattung ist, um gegenüber den etablierten Akteuren bestehen zu können. 

- Von Anfang an müssen Zielsetzungen und Rahmenbedingungen klar definiert sein. Es braucht verlässliche, gesetzlich definierte Regelungen (z.B. in den Behindertengleichstellungsgesetzen) zu den Kompetenzen, der Zusammensetzung, den Einflussmöglichkeiten und dem rechtlichen Status der Interessenvertretung. Beteiligung verkommt zum reinen Alibi, wenn bereits die Anwesenheit von betroffenen Menschen als Beteiligung definiert wird.

- Im Sinne der Qualitätsentwicklung ist eine zunehmende Professionalisierung im Bereich der Interessenvertretung unbedingt erforderlich. Die enge Zusammenarbeit und Vernetzung von Hauptamt und Ehrenamt ist vor allem auch vor dem Hintergrund der vielfältigen Themen und Bedarfslagen grundsätzlich erforderlich. Professionelle Strukturen als Ergänzung zum Ehrenamt übernehmen auch die Aufgabe, die unterschiedlichen Bedarfe zu clustern und Forderungen daraus zu generieren bzw. am richtigen Ort einzubringen

- Behinderung bzw. chronische Erkrankung ist ein unglaublich vielfältiges Themengebiet. Es wird immer wieder deutlich, dass sich der mangelnde Austausch unter den unterschiedlichen Gruppierungen bzw. Behinderungsformen besonders negativ auf das Feld der Interessenvertretung auswirkt. Die Folge ist oft, dass die unterschiedlichen Bedarfe gegeneinander ausgespielt werden und keine eindeutige inhaltliche Linie erkennbar ist. Angesichts des sehr großen Bevölkerungsanteils der Menschen mit Behinderungen (ca. 10 %) könnte eine wesentlich größere politische Wirkung erzeugt werden, wenn die Betroffenen eindeutige gemeinsame Positionen finden würden. 

Thomas Bannasch

Geschäftsführer der LAG SELBSTHILFE Bayern e.V.

 

Weitere interessante Informationen:

www.lag-selbsthilfe-bayern.de/
www.lag-selbsthilfe-nrw.de/project/mehr-partizipation-wagen/
www.bag-selbsthilfe.de/

www.partizipative-qualitaetsentwicklung.de/
www.netzwerk-artikel-3.de/attachments/article/115/Nichts%20%C3%BCber%20uns%20ohne%20uns%20-%20Von%20der%20Alibi-Beteiligung%20zur%20Mitentscheidung!.pdf