„Ein Brief nach Russland
Ich war etwa zwei Jahre alt, als ich die erste Diagnose für meine Muskelkrankheit bekam. Davor war ich herumgelaufen wie andere Kinder in diesem Alter auch. Wenn ich mit Wolfgang durch die Zimmer tobte, dann allerdings fast immer auf allen Vieren, weil das einfach schneller für mich ging.
Was meine Eltern im Hintergrund bewegten, bekam ich kaum mit. Ein Arzt verschrieb mir Glykokoll als Medikament, ein verhasstes Zeug, das ich täglich zu schlucken hatte. Das salzig-bittere Pulver wurde mir eingerührt in Wasser, mit Saft oder in anderen Varianten verabreicht, die gerade den geringsten Widerstand hervorriefen.
„Halt dir die Nase zu…“, gab Mutter mir dazu als Tipp, oder: „Spül es halt schnell mit Saft herunter!“ Da meine Eltern ohne viel Aufhebens, fast spielerisch, damit umgingen, nahm auch ich es als gegeben hin, ohne ein Trauma gegen Glykokoll zu entwickeln. Darüber hinaus machte Mutter täglich Gymnastik- und Kraftübungen mit mir, um die Muskeln, so gut es ging, zu stärken. Etwa bis zur Kommunion mit zehn Jahren konnte ich noch etwas laufen, zuletzt gestützt, im Zimmer, vom Schrank zum Sofa und zurück. Als ich in der Schule war, fuhr Vater mit mir einige Male zur Kur nach Senftenberg. Dort gab es die „Elektrotherapie“, bei der die Muskeln mit Stromimpulsen angeregt wurden. 14 Tage war ich jeweils in den Ferien dort. Ob etwas davon half, ist schwer zu sagen: Einen spürbaren Durchbruch erlebte ich nicht, aber vielleicht wäre es ohne all diese Behandlungen schneller bergab gegangen.
1959 schrieb mein Vater – mitten im Kalten Krieg – einen Brief nach Russland. Dort hatte man wenige Jahre zuvor erstmalig den Wirkstoff Galanthamin aus den Zwiebeln des Kaukasischen Schneeglöckchens isoliert. Diese Substanz wirkte auf die Erregungsübertragung zwischen Nerv und Muskel, und mein Vater wollte nichts unversucht lassen, um auch mich an den Segnungen dieser Pflanze teilhaben zu lassen. Er wandte sich gleich an die höchste Regierungsebene dafür, an den stellvertretenden Ministerpräsidenten der UdSSR, Anastas Iwanowitsch Mikojan, und noch heute hüte ich die Antwort, die er tatsächlich daraufhin bekam. Die Moskauer Handelsfirma „Sojuzchimexport“ schrieb ihm mit deutscher Übersetzung, man sehe zwar zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Möglichkeit, seiner Bitte nachzukommen, da das aus dem Schneeglöckchen in diesem Jahr gewonnene Galanthamin bereits verkauft sei, aber er könne im nächsten Jahr darauf zurückkommen. Wohl bemerkt: Damals war Eiszeit zwischen Ost und West. Der „Eiserne Vorhang“ war zumindest ideologisch dicht, die Angst vor dem Dritten Weltkrieg präsent, und man rüstete auf beiden Seiten hoch. Dass die Sowjets den Brief meines Vaters mit den Belangen eines kleinen Westjungen und seiner Muskelkrankheit so ernst nahmen, finde ich historisch bemerkenswert.
Mit 13 Jahren etwa galt ich, was das Laufen anging, als austherapiert. Man rechnete nicht mehr mit Besserung, und ich bekam meinen ersten Rollstuhl. Bis heute gibt es nichts außer Krankengymnastik (KG) und Kur, was man für Menschen mit meiner Krankheit tun kann. Noch heute gehe ich wöchentlich einmal zur KG und mache verschiedene Übungen zu Hause, die gut tun sollen. Ich habe das Glück, dass ich entgegen meiner Erstdiagnose eine recht sanfte Form der Muskelatrophie habe. Mit fast 65 Jahren, kann ich frei auf einem Bürostuhl sitzen, ohne mich anzulehnen.“

(Auszug aus: „Mitten im Leben und nicht am Rand“, mit freundlicher Genehmigung des Novum Verlags)

Im Dezember letzten Jahres erschien dieses Buch, und als uns Herr Geisler von seiner Biografie berichtete, habe ich mich mit Interesse daran gemacht, die im Internet verfügbaren Leseproben zu studieren. Neben amüsanten und detailreich erzählten Episoden einer typischen Kindheit aus den fünfziger Jahren hat mich besonders das im Eingang abgedruckte Kapitel beeindruckt, in dem Herr Geisler ganz offen und vollkommen schnörkellos über sich und seine Einschränkung schreibt, der Muskelatrophie. Ein Leben damit war zu jener Zeit nicht einfach und ist es heute nicht.  

„Warum gerade ich?“ mögen viele in einer vergleichbaren Situation denken und in Resignation oder Selbstmitleid verfallen. Nichts von alledem ist in den Texten Herrn Geislers zu spüren, vielmehr spricht aus ihnen Neugier auf das Leben, wie sie jedem jungen Menschen zu eigen ist, sowie die Überzeugung, dass genau dieses Leben – so wie es ist – einem alles zu bieten hat und bieten kann.  

Im Gespräch über sein Buch erzählte Herr Geisler, dass er im Bekannten- und Verwandtenkreis häufig dazu aufgefordert worden sei, die mündlich erzählten Geschichten doch auch einmal aufzuschreiben. Lange beschäftigte Herrn Geisler diese Idee, er wollte die Erzählungen über seine Kindheit und sein Leben vor allem für seine Familie zu Papier bringen und damit gewissermaßen dem Familiengedächtnis hinzufügen. Und so setzte er 2017 diese Idee in die Tat um, als – so Herr Geisler –„besonderes Weihnachtsgeschenk (für 2017) für meine Familie, Freunde, Helfer, meinen näheren Bekanntenkreis und auch für mich“.. Herausgekommen ist kein Behindertenratgeber, der anderen Betroffenen zeigen möchte, „wo’s lang geht“, sondern eine erfrischende und herzenswarme Lebensgeschichte.

Lassen Sie sich überraschen!

Wolfgang Vogl